Kriegstagebuch eines Mädchens
Als ich den Roman im Jänner begann, wusste ich noch nicht, wie aktuell dieses Thema werden würde, und sich in diesen Tagen die Ukraine-Krise derart zuspitzen würde, dass sich wieder Kinder im Bombenhagel an Kriegstagebücher setzen werden …
Die Geschichte handelt vom Jugoslawienkrieg aus der Sicht eines kleinen Mädchens, das mit zwölf Jahren völlig abrupt mit dieser Situation konfrontiert ist. Im Sommer fährt Bojana immer zur Großmutter aufs Land, aber dort hat sich einfach alles verändert. Die Leute sind komisch und GRAU geworden, das heißt auf ihren Gesichtern spiegelt sich Angst und Misstrauen, aber auch äußerlich ist diese schlammartige Farbe sehr häufig zu sehen, denn viele uniformierte Soldaten treiben sich plötzlich herum. Während einer ungeplanten Fahrt in die Stadt zum Arzt muss die Familie ganz überraschend unzählige Checkpoints passieren, Lastwagen der Militärs blockieren Brücken und riegeln Stadtbezirke ab, Stacheldraht überall.
Die wabernde bedrohliche Stimmung und das Säbelgerassel vor dem Krieg werden von der Protagonistin und Ich-Erzählerin sehr anschaulich aus der Sicht des Kindes geschildert. Ist sie zu Beginn noch überglücklich, zu Schulanfang nicht in die Schule zu müssen, so wird die Situation zunehmend angsteinflößend. Irgendwann startet der Unterricht trotzdem, die Schüler werden mit Übungen auf den Ernstfall vorbereitet und wie sie sich geordnet in Schutzräume zu begeben haben.
Am dreizehnten Geburtstag der Protagonistin um 14:00 Uhr bricht die Hölle los, der Angriff auf Karlovac hat begonnen. Die Kinder werden entgegen aller vorherigen Beteuerungen und Notfallpläne von den Lehrern einfach aus der Schule geschmissen, sich selbst überlassen und müssen im Granathagel nach Hause flüchten. Bojana und ihre Freundin Tamara suchen Schutz in einer Unterführung, aber ein Soldat bedroht sie dort und schickt sie zurück nach draußen, ein anderer Mann verwehrt ihnen den Zugang zu einem Geschäft. Quer durch die angegriffene Stadt, über offene Felder nahe der Kaserne unter Beschuss, sich ständig duckend und auf den Boden werfend, erreichen sie schlussendlich das rettende Elternhaus und den Bunker.
„Ich kann das gar nicht glauben! Hätte mir das jemand vor ein oder zwei Jahren gesagt, hätte ich ihn für verrückt gehalten. Das kommt mir alles so unwirklich vor! Kann das wirklich heutzutage passieren, und ausgerechnet bei uns?! Für mich ist Krieg der zweite Weltkrieg oder Vietnam, und das alles, was passiert … das geht nicht in meinen Kopf!“
Nach der ersten fürchterlichen Bombennacht im alten Atom-Bunker des Wohnhauses, das ein Plattenbau ist, flüchtet Bojanas gesamte Familie in den Norden bis nach Ljubljana. Dort trennen sie sich von Onkel und Tante mit ihren Kindern, die nach Triest abbiegen, wo der Onkel schon länger Arbeit hat. Bojanas Familie kommt bei einem Freund des Vaters in Ljubljana unter. Doch nach vier Tagen fahren alle wieder zurück nach Hause, obwohl sie herzlich eingeladen sind, weiter zu bleiben. Der Vater muss nämlich wieder zur Arbeit und mit ihm geht die gesamte Familie das Risiko ein. Das ist überhaupt etwas, das ich zwar schon öfter konstatiert habe, aber das ich nicht verstehe: dass vor allem Frauen und Kinder und die Alten immer wieder zurück nach Hause wollen, obwohl sie schon in Sicherheit sind und es dieses Zuhause überhaupt nicht mehr gibt, weil es mittlerweile schon in Trümmern liegt. Die Oma war ebenso kaum von ihrem Grenzdorf wegzubringen. Auch die Tante kehrt freiwillig alleine mit ihren Kindern in die Heimat und in den Krieg zurück, obwohl ihr Mann in Triest Arbeit und eine Wohnung hat.
So wird das Kriegsleben im Hochhaus und im Bunker neben der Kaserne prolongiert, täglich unter Beschuss, die meiste Zeit zusammengequetscht mit allen Nachbarn im Bunker, schnell in den Feuerpausen in den noch stehenden Wohnungen auf die Toiletten zu gehen und etwas zu essen zu organisieren. Denn seit der ersten Bombennacht hat sich natürlich einiges verschlechtert, nämlich die Versorgung. Bojanas Familie und die Nachbarn haben Glück, das Haus wird zwar beschossen und es brennt öfter, aber es stürzt nie ein. Zwischendurch gibt es auch einige Entspannungsphasen, in denen Schule und andere Aktivitäten stattfinden, aber dann kommt der Krieg jedes Mal mit voller Wucht wieder zurück.
Ein paar berührende Situationen werden auch geschildert, zum Beispiel als die Jugendlichen während einer Feuerpause eine Silvesterparty ohne Eltern im Bunker organisieren, die die Sorgen für einen Augenblick vertreiben soll. Der erneute Beschuss startet im Morgengrauen, die jungen Leute haben nicht mal zwei Stunden geschlafen. Einmal im zweiten Kriegsjahr darf die ganze Familie beim Onkel in Triest Urlaub machen. Der Kontrast zwischen der Kriegsrealität in Kroatien und dem Leben ein paar hundert Kilometer weiter in Italien ist frappant. Alles ist fröhlich und bunt, die Straße ist belebt, die Cafés haben geöffnet und die Leute haben keine Angst. Als eine italienische Fliegerstaffel zufällig über den Platz fliegt, werfen sich die Kinder auf den Boden.
„‚Oh Gott beruhigen wir uns, alle schauen schon her‘ – sagt die Tante.
‚La guerra è una cosa incrediblie’… – sagt eine ältere Dame, die mit ihrer Enkelin dicht bei uns am Brunnen steht. Sie scheint erkannt zu haben, woher wir kommen.“
Eine Kleinigkeit hat mich aber schon gestört, denn zu Beginn des Romans gab es bei mir einige Irritationen wegen mangelnder Authentizität bezüglich der Sprache. Ein großer Teil ist aus der Ich-Erzählperspektive in der Gegenwart einer gerade Dreizehnjährigen geschrieben, die erst allmählich älter wird, die aber formuliert wie eine abgeklärte Erwachsene. Dafür gibt es viele Belege, zum Beispiele schildert das Kind schon in frühem Alter etwas davon, dass die Leute alle aussehen, wie auf Edward Munchs Bild Der Schrei. Ich war als vierzehnjähriger Teenager auch sehr kunstaffin, aber als Mini-Kroatin ausgerechnet ein norwegisches Bild, das in Oslo hängt, zu kennen, ist schon viel zu drüber. Die Protagonistin Bojana formuliert auch sonst schon mit zwölf Jahren so philosophisch wie eine Erwachsene. Dabei ist auch noch zu erwähnen, dass Munchs Bild zur Zeit des Jugoslawienkrieges noch nicht gestohlen worden ist, das heißt, die Publizität, die es später erhalten hat, gab es damals noch nicht.
Zugutehalten muss ich dem ganzen Setting und dem Tagebuch-Roman aber, dass er in Wirklichkeit tatsächlich von der sechzehnjährigen Autorin formuliert wurde und dass ich hierzu der sprachlichen Entwicklung der Schriftstellerin unbedingt Hochachtung zollen möchte. Bojana Meandžija wollte halt auch das Talent ihrer Sprachfabulierkunst ausspielen, und hat dabei wahrscheinlich aus mangelnder Erfahrung vergessen, dass ihre gewählte Ich-Erzählperspektive in der Gegenwart aber weniger Geschick und kindlichere Ausdrucksweise erfordern würde, um die Authentizität zu gewährleisten und solche Irritationen bei der Leserschaft zu vermeiden. So, aber jetzt möchte ich mit meinem Gemäkel über Petitessen wieder aufhören.
Fazit: Leseempfehlung! Wer sich derzeit emotional stabil genug fühlt, um sich mit Kriegsliteratur beschäftigen zu können, sollte genau diesen Roman lesen. Denn hier erfährt man unmittelbar, wie sich Kinder und Familien fühlen, wenn sie vom Krieg überrumpelt werden.
Lauf! Warte nicht auf mich …
Bojana Meandžija
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe
- ISBN: 9783990294901
- Sprache: Deutsch
- Ausgabe: Gebundenes Buch
- Umfang: 306 Seiten
- Verlag: Wieser Verlag
- Erscheinungsdatum: 30. September 2021
- gesehen um EURO 22,00
(Beitragsbild: Roman und Kriegstagebuch, Collage zum Roman „Lauf! Warte nicht auf mich …“ von Bojana Meandžija, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)