Was geht, Österreich?, Eva Reisinger

Gebrauchsanweisung für Österreich – Realität unter der rosaroten Tourismusglasur 

Eigentlich bin ich ja gar nicht die Kernzielgruppe dieses Buchs Was geht, Österreich? von Eva Reisinger, denn es soll wahrscheinlich den deutschen Leser*innen einen ehrlichen, ungeschönten Blick auf unser Land mit all den Problemen und Grauslichkeiten geben, die wir uns immer bemühen zu verdecken. Das hat dieses Werk auch wirklich hervorragend abgeliefert. Aber auch für Österreicher leistet es durchaus einen sehr wertvollen Beitrag, zusammenfassend und übersichtlich einfach einmal das österreichische Wesen, den Kern unserer Identität und Gesellschaft in seinen hübschen und hässlichen Seiten aufzubreiten.

Abseits aller Tourismusklischees, die wir immer zu bedienen vermögen, seziert Eva Reisinger mit kurzen Kapiteln und Themen von A bis Z die österreichische Seele, die Politik, die Medien und die Gesellschaft, vor allem auch auf dem Land und legt all die braunen Spritzer, den Eiter des Rassismus und andere unangenehme (mitunter auch angenehme) Eigenschaften frei, aber nicht in Form einer Anklage, sondern meist sehr lapidar in kleine Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend verpackt oder manchmal auch in Analysen mit bissigem Humor garniert. Die Autorin steigt sehr intensiv, tief und treffsicher in die österreichische Psyche ein, was ich nun als Nicht-Zielgruppe des Werkes und auf dem Land lebend natürlich sehr gut beurteilen kann, denn genauso habe ich auch fast alles erlebt und wahrscheinlich viele andere Österreicher*innen auch, wenn sie sich denn einen kritischen Blick auf die typischen Gepflogenheiten unseres Landes erlauben.

Von A wie Ausgehen bis Z wie Zuckerl, respektive Wahlzuckerl, wird die wirklich ereignislose und optionslose Zeit der Jugend in einem kleinen Dorf geschildert, sonderbares Brauchtum wie beispielsweise Brautstehlen, fragwürdige Umgangsformen, unsere rückständige Einstellung zum Feminismus, der Alltagsrassismus thematisiert, der noch immer in den Gehirnen wabernde Nationalsozialismus analysiert, der über Generationen weitergegeben wurde, das politische und mediale Parkett mit all seinen Hintergründen beleuchtet und auch viele Austriazismen erklärt. Gewürzt wird das Ganze auch noch mit ein paar positiven Aspekten, wie zum Beispiel unserer köstlichen Küche. Im Kapitel P wie Piefke wird übrigens auch unsere ambivalente Beziehung zu den Deutschen inklusive der bedienten Stereotypen und Vorurteile ziemlich treffend untersucht.

Mir persönlich war das ganze streckenweise fast zu normal, banal und dahinplätschernd erzählt, zu wenig bissig formuliert, als dass ich es jetzt für Österreicher*innen als zwingend dokumentationswürdig erachten würde. Aber wenn ich es von außen betrachte und mit dem falschen Bild vergleiche, das einem Touristen immer wieder von unserem Land präsentiert wird, dann ist das sicher höchst spannend und eine wirklich wichtige und umfassende Zusammenfassung einer Gebrauchsanleitung für unser Land. Vor allem auch, weil die Autorin wirklich viel zu Hintergründen erklärt, was Außenstehenden erklärt werden muss, damit sie den Kontext verstehen, was aber Einheimischen ohnehin nur ein Schulterzucken entlockt, da manche menschlichen und politischen Grenzüberschreitungen bei uns schon seit ewigen Zeiten Normalität bedeuten.

Das ist so wie die Österreich-Sendung von Jan Böhmermann im Magazin Royale vom 7. Mai 2021 über die politische Situation in unserem Land. Ganz Österreich war enttäuscht, dass Böhmermann keine neue Grauslichkeit aufgedeckt hat, und zuckte mit den Schultern, weil uns ohnehin schon alles bekannt ist. In Deutschland hat ein solches politisches Gebaren unserer Regierenden und deren Zusammenfassung im Fernsehen Entsetzen hervorgerufen. Da sind wir nun beim Diskurs und der Grenzverschiebung angekommen und sollten das Entsetzen aus Deutschland einmal auf uns wirken lassen, und wie sehr für uns Österreicher bedauerlicherweise Korruption schon zur Normalität geworden ist. So geht es halt auch mit allen anderen unangenehmen Eigenschaften unserer österreichischen Gesellschaft, die dieses Buch aufdeckt.

Plötzlich, während der hervorragenden Zusammenfassung von für mich ohnehin bekannten Fakten und des schon angesprochenen Dahinplätscherns, poppten dann zwischendurch Kapitel auf, die mich völlig vom Hocker gerissen haben.

Da waren zuerst die mit spitzer Feder geführte Analyse der österreichischen Männer und ihre Beziehung zum Keller, und das nicht nur in der Fritzl-Priklopil-Variante sondern auch hobbymäßig in Bezug zu ALLEN Männern. Das ist so genial, ich hätt‘ mir vor Lachen fast ins Hoserl gewischerlt.

„Der Keller ist der wichtigste Raum im ganzen Haus. Denn nur dort kann man tun, was man will. Nur dort schauen die Nachbar*innen nicht rein. Nur dort lässt die Frau einen in Ruhe. Österreich hat ein schwieriges Verhältnis zu seinen Kellern. […] Sie zeichneten das Bild eines Landes voller Psychopathen mit zu gut isolierten Kellern. Ulrich Seidel drehte einen ganzen Film über die Keller im Land. Dort zeigt er unter anderem Männer bei der Wiederbetätigung (im nationalsozialistischen Sinne). […] Vieles, was im Keller gemacht wird, ist nicht immer ganz legal, gesellschaftlich akzeptiert oder erwünscht. […] Warum geht es hier immer um Keller? Und zwar nicht nur im Zusammenhang mit Verbrechen und Gewalttaten, sondern auch mit Hobbys und Sex. Vielleicht weil der Keller heute der einzige Ort ist, an dem noch alles so ist, wie es immer war. Ein Ort der Konstante. Dem die fürchterliche politische Korrektheit, der Feminismus und die Globalisierung wurscht sind.“

Auch der Abschnitt über die Opferthese Österreichs als erstes Opfer Adolf Hitlers und die persönliche Aufarbeitung der Enkelgeneration mit Kriegsverbrechen vor allem in der eigenen Familie am Beispiel der Autorin ist schlichtweg brillant.

Das Kapitel Parteibuch hat mich frappant an meine Kindheit erinnert. Alles war im Sinne des Proporzes zwischen den zwei großen Parteien aufgeteilt, respektive gab es alles doppelt, sogar die Ferienlager waren parteipolitisch gefärbt. Ich war einmal mit meiner leiblichen Mutter und meiner Tante inklusive Cousinen auf einem Kinderschiurlaub in Gosau. Josef Pühringer, späterer ÖVP-Landeshauptmann von Oberösterreich, damals aber noch nicht bekannt und normaler Religionslehrer, saß mir gegenüber am Frühstückstisch. Keiner mochte ihn, weil er so schmierig war, letztendlich hat ihm seine Art bei einer politischen Karriere sehr geholfen. Plötzlich sagte ich laut zu meiner Mutter: „Gell, der Rudi (Vater meiner besten Freundin) ist der beste Freund vom Androsch (damaliger SPÖ Finanzminister).“ Totenstille im ÖVP Speisesaal. Alle waren geschockt, dass ein kleines Kind den Namen eines Sozialisten in den Mund nahm. Ich hab‘ natürlich nichts verstanden.

So werden viele wie ich, die teilweise auf dem Land aufgewachsen sind, nickend die kleinen kritischen Geschichten als wahr, größtenteils auch selbst erlebt und manchmal auch als nicht gerade liebenswürdig erzählt empfinden. Aber sie zeichnen eben ein ziemlich genaues Bild unseres Landes.

Fazit: Ich spreche die wärmste Empfehlung für dieses Buch aus, vor allem für Menschen, die Österreich abseits aller Klischees wirklich gut kennenlernen möchten. Aber Vorsicht, was Ihr hier lest, könnte Euch die Lust auf Österreich und die Österreicher*innen ein für alle Mal ein bisschen vergällen. Im Klappentext steht, „Alles was Sie über Österreich wissen müssen. Und alles was Sie lieber nicht gewusst hätten.“ Das kann ich vollumfänglich unterschreiben. Ich gehe sogar soweit, dieses Werk von Eva Reisinger als eigentliche und wahre „Gebrauchsanweisung für Österreich“ für Nicht-Österreicher*innen zu nominieren, empfehle es als geniales Geschenk für jeden Immigranten (vor allem für Deutsche) und als wertvollen Beitrag zur Integration in dieses Land.
Aber auch für Österreicher*innen ist dieses Buch sehr gut geeignet, einmal sehr humorvoll und in grandiosen Geschichten verpackt über unsere schlechten, aber auch mitunter netten Eigenheiten kritisch zu reflektieren. Eine recht umfassende Zusammenfassung über das Mysterium: „Wie wir ticken und was die Ursachen dafür sind“ wird uns hier präsentiert.

P.S.: Die ursprüngliche „Gebrauchsanweisung für Österreich“ von Heinrich Steinfest ist auch höchst vergnüglich und genial, aber eigentlich ob ihrer Komplexität und ihres erforderlichen Vorwissens über das Land nur für Österreicher*innen geeignet. Diese gibt es als Leseempfehlung zu dieser Rezension on top dazu. Hier findet Ihr Details zu Steinfests Werk.

 

Was geht, Österreich?, Eva Reisinger, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Was geht, Österreich?, Eva Reisinger, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

Was geht, Österreich?

Eva Reisinger

 

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783462054637
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Flexibler Einband
  • Umfang: 288 Seiten
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erscheinungsdatum: 14. Jänner 2021
  • gesehen um Euro 12,90
(Beitragsbild: Buchcover und typisch Österreich: ein Schnitzerl, Kollage zum Roman ‚Was geht, Österreich?‘ von Eva Reisinger, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)
Bewertung für Österreicher*innen:

kekinwien.at

Bewertung für deutsche Leser*Innen:

Dein Kommentar

keke Spam-Abwehr: *