Critical_Care_AzW_kekinwien

Critical Care

Kann Architektur die Welt retten?
Kommt diese Frage nicht schon zu spät?
Welche Antworten dazu findest du im Architekturzentrum Wien?
Wir empfehlen hiermit nachdrücklich die aktuelle Ausstellung im Azw: Critical Care.

Critical Care, unser Planet auf der Intensivstation

Das Azw stellt endlich die Frage: Was kann (und muss) Architektur heute leisten, um den Anforderungen wie Klimawandel, Migration, Artensterben etc., schlicht unserem Planeten in seiner kritischen Situation gerecht zu werden? Anhand von 21 Projekten, die „den Realtest bereits hinter sich haben“, werden im AzW im Wiener MuseumsQuartier Beiträge zur „Zukunftsreparatur“ in einer außerordentlich sehenswerten Ausstellung präsentiert. (Zitate von Elke Krasny, die zusammen mit Angelika Fitz die Ausstellung kuratiert hat, bei der Pressekonferenz am 24. April 2019)

 

Pressekonferenz in der Bibliothek des AzW, Critical Care, Bild (c) Claudia Busser - kekinwien.at

Pressekonferenz in der Bibliothek des AzW, Critical Care, Bild (c) Claudia Busser – kekinwien.at

 

Hot In The City

In diesem Tagen schwitzen auch die Leugner des Klimawandels. Wer recht hat und wer nicht, soll hier nicht zur Debatte stehen. Dass wir uns besser benehmen müssen, verantwortungsvoller planen, solidarischer mit Mensch und Umwelt umgehen, ist auch so sonnenklar. Viele, nicht alle, Lösungen liegen in den Städten. Hier leben die meisten Menschen, laut Wiener Zeitung vom 23.7.2019 sind das 55,3 Prozent der Weltbevölkerung. „Zwei Drittel des Weltenergieverbrauchs und gut 80 Prozent der globalen Co2-Emissionen gehen auf das Konto von Städten.“ (Leitartikel, Thomas Seifert, ebenda)

Dass es Verbesserungspotential in Sachen Ernährung und Verkehr gibt, schlicht in der Lebensführung des Menschen, beginnen wir zu verstehen, wobei die Lösungsansätze nicht restlos glücklich machen. Dass man planeten- und menschenfreundlich bauen und handeln kann und soll, scheint im Vergleich noch nicht so deutlich in unserem Bewusstsein verankert. Die Ausstellung Critical Care im AzW liefert einen ungeheuer wertvollen Beitrag dazu, dies zu ändern.

„Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“ ist ein Plädoyer für eine Architektur des Sorgetragens. Die 21 Fallbeispiele demonstrieren, dass Architektur und Stadtentwicklung sich nicht dem Diktat des Kapitals und der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeit unterwerfen müssen. In jedem der Projekte werden die Beziehungen zwischen Ökonomie, Ökologie und Arbeit neu bestimmt.

Das erfordert neue Allianzen, auch zwischen top-down und bottom-up. Akteur*innen des Sorgetragens in Architektur und Urbanismus kommen auch aus Stadtverwaltungen, NGOs, der Zivilgesellschaft, internationalen Organisationen oder nachhaltig orientierten Unternehmen. Viele Wissenssorten tragen neben den Planungsdisziplinen zu Architektur und Urbanismus des Sorgetragens bei, wie Anthropologie, Soziologie, Umweltwissenschaften, Rechtswissenschaften, Landschaftsplanung, Kunst und andere mehr.“ (Pressetext)

Einblick in die Ausstellungshalle 2, AzW, Critical Care, Bild (c) Claudia Busser - kekinwien.at

Einblick in die Ausstellungshalle 2, AzW, Critical Care, Bild (c) Claudia Busser – kekinwien.at

 

Sorgetragen

Elke Krasny erläutert bei der Pressekonferenz den Begriff „care“: „Sorge tragen ist ein menschliches Bedürfnis, das man auch auf die Architektur anwenden kann. „Die Konzeption für die Schau folgt diesem Gedanken. Dabei sind die vor den Vorhang geholten Projekte nicht „spektakulär oder ikonisch, aber sie alle haben große Wirkung.“

Alle 21 Projekte sind also keine Hypothesen, sondern wurden realisiert und sind in der Ausstellung durch verschiedene Medien bestens dokumentiert. Alle sind prototypisch und beschäftigen sich mit bereits Bestehendem, nichts wurde also einfach auf die grüne Wiese gestellt – es geht auch um ökologische Gerechtigkeit. Schön ist zu sehen, wie die Architektur Verbündete aus anderen Wissensgebieten suchte und fand.

 

Ein kleiner Teil der mobile Beschattung und Kühlung, eine low tech Klimainstallation im Azw anlässlich der Ausstellung Critical Care, Bild (c) kekinwien.at

Ein kleiner Teil der mobile Beschattung und Kühlung, eine low tech Klimainstallation im Azw anlässlich der Ausstellung Critical Care, Bild (c) kekinwien.at

 

„Eine andere Architektur ist möglich.“

Diese Aussage von Angelika Fitz manifestiert sich beeindruckend in der Ausstellungshalle 2 des AzW. Auch dort kämpft man mit den steigenden Temperaturen und setzt eine mobile Beschattung durch Baumreihen ein, eine low tech Klimainstallation, entstanden in Zusammenarbeit mit der Angewandten Energy Design.

Alle 21 Case Studies plus 12 Essays von internationalen Autor*innen zu den Themen Arbeit, Ökonomie und Ökologie in der Architektur sind im Buch zur Ausstellung enthalten, das ich hiermit nicht nur Student*innen der Architektur, Umwelttechnologie, Soziologie etc. wärmstens ans Herz legen möchte: „Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet“, ISBN 978-0-262-53683-7 um Euro 38,30.

 

Ausstellungskatalog, Critical Care, Bild (c) kekinwien.at

Ausstellungskatalog, Critical Care, Bild (c) kekinwien.at

 

Critical Care

In der Folge gebe ich einen Übersicht über die Struktur der Schau und greife einzelne Projekte heraus. In der Ausstellung Critical Care vergeht ein halber Tag wie im Flug, eine Stunde empfinde ich als Minimum für den Besuch. Folgende fünf Schwerpunkte wurden in dreijähriger Arbeit gesetzt:

1. Sorgetragen für Wasser, Grund und Boden

Hier sei das Projekt Friendship Centre in Gaibandha, Bangladesh, 2012, hervorgehoben, das den Kuratorinnen so wie das folgende auch besonders wichtig schien. Das Problem wiederkehrender Überflutungen wird hier nicht gegen das, sondern mit dem Wasser gelöst.
Weiters zu erwähnen ist der Caño Martin Peña Community Land Trust in San Juan, Puerto Rico, 2014, der durch Landstiftung dem Bodenausverkauf vorbeugt.

  • Wasserknappheit
  • Wasserverschmutzung
  • Steigender Meeresspiegel
  • Überschwemmungen
  • Bodenspekulation
  • Versiegelung

2. Sorgetragen für Reparatur

 

Teil der Dokumentation des Projekts in Cité du Grand Parc, oben rechts: nachher, darunter: vorher, Bild (c) Claudia Busser - kekinwien.at

Teil der Dokumentation des Projekts in Cité du Grand Parc, oben rechts: nachher, darunter: vorher, Bild (c) Claudia Busser – kekinwien.at

 

Der Umbau von 530 Wohnungen in der Cité du Grand Parc, einer Großwohnsiedlung nördlich des Stadtzentrums von Bordeaux, 2016, ist mein persönlicher Favorit in der Ausstellung Critical Care. Der in den frühen 1960er Jahre errichten Plattenbau wurde nicht einfach resourcenverschwendend wärmegedämmt oder abgerissen, sondern die Wohnqualität für die Menschen wurde u.a. durch den Anbau von Balkonen, Terrassen und Wintergärten massiv verbessert. Das Video mit Interviews der Bewohner*innen, die Einblick in ihre neu gewonnenen, ganz privaten Räume gewähren, fand ich unheimlich berührend.

  • Nachlass der Moderne
  • Marode Bausubstanz
  • Ressourcenverbrauch
  • Leerstand
  • Kapitalgetriebene Urbanisierung
  • Vertreibung

3. Sorgetragen für Fertigkeiten und Kenntnisse

Diese Abteilung inkludiert auch menschliche Fähigkeiten, nicht nur nostalgisch arts & crafts. Besonders beeindruckend fand ich Sindh Flood Rehabilitation unter der Ägide der Architektin Yasmeen Lari in der Provinz Sindh, Pakistan, seit 2010. Auch hier waren das Problem wie in Bangladesh die wiederkehrenden Überflutungen. Als Alternative zur Internationalen Hilfsindustrie wurden die Menschen vor Ort in ihren Fähigkeiten gestärkt. Aus Lehm, Kalk bzw. Bambus wurden seit 2010 beidruckende 40.000 Häuser mit Kochstellen mit geringeren Emissionen und überschwemmungssichere Lagerstätten gebaut. Auftraggeber*innen sind dabei lokale Dorfgemeinschaften und Frauen. Fertigkeiten werden in einer Art Schneeballsystem vermittelt, die Abhängigkeit von Entwicklungshilfegeldern wird minimiert.

  • Wiederkehrende Katastrophen
  • Internationale Hilfsindustrie
  • Globalisierte Bauindustrie
  • Flucht und Vertreibung
  • Fehlende Bildungsmöglichkeiten

4. Sorgetragen für den öffentlichen Raum

Liest man die Schlagwörter, muss man unweigerlich an Berlin oder Wien denken, finde ich. Tatsächlich findet sich das Projekt der beiden Kuratorinnen „Care+Repair“, Freie Mitte Nordbahnhof, Wien, 2017, auch in dieser Abteilung.
Besonders bemerkenswert erscheint mit außerdem „Ruskin Square“, Croydon, England, seit 2010. Dort wird der öffentliche Raum genützt, bevor überhaupt gebaut wird. Die gestaltete öffentliche Landschaft mit ihren vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten beugt auch er Bodenversiegelung vor. Womit wir gedanklich wieder in Österreich wären … mehr zum Thema findest hier auf der website des Umweltbundesamtes.

  • Gentrifizierung
  • Privatisierung
  • Austerität
  • Überwachung
  • Verkehr
  • Luftverschmutzung

5. Sorgetragen für Produktion

 

Einblick in die Ausstellung Critical Care, das Projekt 'this is not a shirt', Bild (c) Claudia Busser - kekinwien.at

Einblick in die Ausstellung Critical Care, das Projekt ‚this is not a shirt‘, Bild (c) Claudia Busser – kekinwien.at

 

Die Textilindustrie und auch das Recycling von Textilien sind ein sehr großes Thema mit vielen ungelösten Problemen. Die Architektin Anna Heringer hat zusammen mit der Schneidermeisterin Veronika Lena Lang das Projekt „this is not a shirt“ in Rudrapur Bangaldesh, 2012 initiiert. Im ländlichen Raum wird das Textilprojelt zum raumplanerischen. Die wundervollen Stücke siehst du auch auf den Bildern dieses Beitrags und einige Shirt gibt es noch im Shop des Azw zu erstehen.

„Die meisten Einwohner*innen Bangladeschs leben auf dem Land, und das Dorfleben hat nicht nur einen geringen ökologischen Fußabdruck, es ermöglicht auch „ein hohes Maß an Freiheit“, wie Anna Heringer es ausdrückt. Es fehlt jedoch an Arbeitsplätzen und Dorfbewohner*innen ziehen in die Stadt, um in der Textilindustrie zu arbeiten. Dort enden viele von ihnen in überfüllten Slums. Über vier Millionen Menschen in Bangladesch, besonders Frauen, produzieren TShirts und andere Kleidungsstücke für den standardisierten Weltmarkt. Dabei werden sowohl die einzigartige Textilkultur des Landes als auch globale technische Entwicklungen, die in naher Zukunft einen Teil der Handarbeit ersetzen werden, völlig außer Acht gelassen.
This is not a shirt begründet einen dezentralisierten Produktionsablauf direkt im jeweiligen Dorf. Die Fertigung der Kleidungsstücke entspringt der lokalen Tradition, nach der eine Frau pro Jahr einen Sari von ihrer Familie erhält; ein Mann bekommt einen Lungi. Wenn die Saris und Lungis aufgetragen sind, werden sie traditionell zu mehrlagigen, handgenähten Decken umgearbeitet. Mit den Jahren nutzen sich die äußeren Lagen ab und enthüllen die verborgenen Schichten. Jede farbenprächtig strukturierte Oberfläche ist ein Abbild des jeweiligen familiären Mikrokosmos. Diese Stoffe werden zu zeitgenössischen Designs verarbeitet, die keinem kurzlebigen Modetrend folgen. Die einzigartigen Stücke sollen über einen langen Zeitraum getragen werden.This is not a shirt kehrt den üblichen Handelsstrom um. Normalerweise schickt der Globale Norden seine verschlissene Kleidung in den Globalen Süden. Das Projekt liefert hochwertige wieder verwertete Textilien in die entgegengesetzte Richtung und belegt damit die Möglichkeit eines alternativen ‚Made in Bangladesh‘..“
(Angelika Fitz im Pressetxt)

  • Neoliberaler Kapitalismus
  • Ausbeutung
  • Prekarisierung
  • Arbeitslosigkeit
  • Landflucht

Fazit: Hat man diese sensationelle Ausstellung gesehen, wünscht man sich innig, jeder andere Mensch würde diese Gelegenheit ebenfalls wahrnehmen. Entscheidungsträger*innen, Resignative, Konsument*innen, …. dass viele Schulen Interesse bekundet haben, gibt Anlass zur Hoffnung.

„Schau’n Sie sich das an!“ (Karl Farkas)

 

Critical Care, Ausstellungsdesign, Projekt: this is not a shirt, Bild (c) Claudia Busser - kekinwien.at

Critical Care, Ausstellungsdesign, Projekt: this is not a shirt, Bild (c) Claudia Busser – kekinwien.at

 

 

Critical Care

Architektur und Urbanismus für einen Planeten in der Krise

AzW, Ausstellungshalle 2
Museumsplatz 1 im MQ, 1070 Wien
Tel.: +43 1 522 31 15
E-mail: office@azw.at
web: www.azw.at

Öffnungszeiten: täglich 10.00 – 19.00 Uhr
Preise: Euro 9,00, zahlreiche Ermäßigungen
Die Ausstellung läuft seit 25. April 2019 und noch bis zum 9. September 2019!

 

Die Kuratorinnen von Critical Care bei der Pressekonferenz im AzW, Bild (c) Claudia Busser -kekinwien.at

Die Kuratorinnen von Critical Care bei der Pressekonferenz im AzW, Bild (c) Claudia Busser -kekinwien.at

 

Kuratorinnen: Angelika Fitz, Elke Krasny
Ausstellungsarchitektur: the next ENTERprise
Ausstellungsgrafik: Alexander Schuh

Umfangreiches Begleitprogramm, zum Beispiel diese Führungen:

  • Kuratorinnenführung: 14. August 2019, 17.30 Uhr
  • Ausstellungsführung: 21. August 2019, 17.30 Uhr
  • Dialogführung: 28. August 2019, 17.30 Uhr
    Fokus Arbeit: Arbeitsrealitäten als Reinigungskraft
    Jelena Micic, Reinigungskraft und Künstlerin, u. a. „Putzmalerei“ (in englischer Sprache)
    Anmeldung zu den Dialogführungen erforderlich: anmeldung@azw.at
    Tickets: € 2,40  plus Eintritt

(Beitragsbild: Einblick in die Ausstellungshalle 2 im AzW, Critical Care, Bild (c) Claudia Busser – kekinwien.at)

 

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