Das Muschelessen, Birgit Vanderbeke

Sturz des Tyrannen

Über die großartige, bei uns nicht so bekannte Schriftstellerin Birgit Vanderbeke bin ich wieder einmal im Rahmen meiner Autorinnen-Challenge gestolpert, als meine Mitstreiter für den Buchstaben V eine adäquate deutsche Literatin suchten und derart begeistert waren, dass ich sie sofort auf meine Wunschliste setzen musste. Dabei scheint das Familiendrama Das Muschelessen gänzlich zeitlos und auch heute noch brandaktuell, obwohl es schon 1990 erstmals veröffentlicht wurde.

Ein großartiger Plot und ein wundervolles Szenario, das dieser kleine kurze Roman entwickelt.
Der Patriarch kommt verspätet von der Dienstreise nach Hause. Das eigens für ihn vorbereitete Muschelessen gammelt so stundenlang vor sich hin. Schrittweise entpuppt sich auch die brutale Autorität des Tyrannen, die plötzlich schwankt, weil die restliche Familie die eingefahrenen erstarrten Verhaltensmuster der Familie genau an diesem Tag nicht abrufen kann und damit Zeit und auch Raum bleibt, sich einmal ohne den psychischen und physischen Missbrauch des Vaters mit neuen subversiven Gedanken zu beschäftigen.

Das ganze Setting wird sehr authentisch aus der Sicht der Tochter erzählt, wodurch der Schreibstil anfangs ein bisschen mühsam und nervig mit all den sprachlichen Redundanzen ist. Diese sind aber nicht im Plot, sondern kommen in den kurzen abgehackten Halbsätzen vor. Das junge Mädchen wiederholt und bekräftigt in Bandwurmsätzen ständig ihre eigenen Aussagen, um auch sich selbst derer zu versichern. Irgendwann hatte ich mich aber daran gewöhnt, und die plappernde und teilweise panische Erzählweise des geschundenen Kindes entwickelte einen Sog, dem auch ich mich nicht entziehen konnte.

„… mein Bruder ist auch nicht so gefräßig gewesen, sondern sanft, was aber mein Vater jämmerlich fand, seine dauernde Niedlichkeit hat meinen Vater gegen ihn aufgebracht, während er sie bei mir sehr vermisst hat, weshalb es in unserer Familie immer geheißen hat, ich bekomme, so uncharmant wie ich bin, keinen Mann, während es geheißen hat, so mädchenhaft, wie mein Bruder ist, das ist alles andere als normal, …“

Der Schluss des Romans ist grandios.
Der Patriarch wird in Abwesenheit ohne ein einziges böses Wort abmontiert und sehr subtil gestürzt.

Fazit: Stilistisch ungewöhnlich, aber authentisch erzählt und lesenswert. Eine sehr gute, tiefe und hintergründig gestaltete Geschichte, darüber wie sich ein Familiensystem gemeinsam und jeder einzeln nach langer Qual gegen einen Tyrannen auflehnen kann.

 

Das Muschelessen, Birgit Vanderbeke, Bild zur Erzählung (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Das Muschelessen, Birgit Vanderbeke, Bild zur Erzählung (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

 

Das Muschelessen
Birgit Vanderbeke

 

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783492274005
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Flexibler Einband
  • Umfang: 128 Seiten
  • Verlag: Piper
  • Erscheinungsdatum: 1. April 2012

Das aktuelle Hörbuch ist am 2. April 2001 bei Audiobuch erschienen.
Die Erzählung ist 1990 mit dem Ingeborg Bachman Preis ausgezeichnet worden.
(Beitragsbild: Collage zur Erzählung „Das Muschelessen“ von Birgit Vanderbeke, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)

 

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