Gefangener 2959, Bernhard Kreutner

Gefangener 2950, Buchrezension - kekinwien.at

Direkt aus der Gestapohaft – die Verhöre eines Pfarrers & Widerstandskämpfers

Gibt es noch immer nicht genug Bücher und Filme über die NS-Zeit? Sind wir im Rahmen der Dokumentation dieser Ära nicht schon bei Hitlers Bademantel und seinem Popeltuch angekommen, weil uns ohnehin nichts Neues mehr dazu einfällt? Ich möchte solche Aussagen sogar entschieden verneinen, denn gerade jetzt, vier Generationen nach dieser Zeit mit etwas Abstand von der ursprünglichen Verdrängung der Täter und Opfer, mit viel mehr Freiheit, weil niemand mehr beleidigt, beschämt und retraumatisiert werden kann, kommen so einige Aspekte und ihre Auswirkungen zu Tage, die bisher noch nie analysiert wurden. Dazu gehört sicher die Auswirkung des Holocaust auf Folgegenerationen, aber auch der österreichische Widerstand und die Rolle der katholischen Kirche beim Anschluss von Österreich an Nazideutschland.

Aus diesem Grund sind viele neue Publikationen in den letzten Jahren und auch gerade das Buch Gefangener 2959 von Bernhard Kreutner so wichtig für die Gewinnung von neuen historischen Erkenntnissen. Bernhard Kreutner hat das Leben des Widerstandskämpfers und Priesters Heinrich Maier in eine gut zu lesende, spannende Romanbiografie gegossen, die sich nicht zu hundert Prozent aus authentischen Quellen speist, aber aus Briefen, aufgezeichneten Gesprächsnotizen und Verhörprotokollen eine sehr konsistente Charakterisierung des Pfarrers und Hitler-Gegners erstellt. Durch die inneren Monologe Maiers in der Gestapo-Haft und die aus historischen Quellen geschilderten Verhöre aus der Sicht des Priesters wird ein sehr persönliches, plastisches Bild des Protagonisten gezeichnet, das sich von der Dramaturgie her mit hoher Wahrscheinlichkeit so oder eben so ähnlich abgespielt hat.

Heinrich Maier war Wiener Mitglied einer international operierenden Widerstandszelle, wird in der Geschichte direkt von der Predigt weg verhaftet und zum Gestapo-Verhör gebracht. Er sorgt sich sehr um seine Mitstreiter und versucht, diese nicht zu verraten. In jedem Detail werden die Folter (Vorsicht: Trigger-Warnung, das ist sehr grausam realistisch) und die Strategien unterschiedlichster Nazi-Schergen geschildert, die aus Maier bestimmte Informationen herauspressen wollen, aber auch nicht immer sehr gut zusammenarbeiten, weil sie untereinander in Konkurrenz stehen und unterschiedliche Ziele verfolgen. Maier versucht, sie zu analysieren, auszuhorchen, gegeneinander auszuspielen und nur das zuzugeben, was ohnehin schon bekannt ist, damit er seine Freunde und Bekannten, die er noch in Freiheit wähnt, und das Ziel seiner Organisation nicht sabotiert. Zwischen den Folterattacken in den Ruhephasen betet er zu Gott um Kraft, überdenkt seine Aussagen und die Reaktionen darauf und legt für sich eine Strategie für das nächste Verhör fest. Er weiß schon zu Beginn, dass sein Leben endgültig verwirkt ist und nur ein Todesurteil am Ende seiner Haft stehen kann, aber er möchte auf keinen Fall durch seine Schuld auch andere Widerstandskämpfer in den Abgrund reißen, deshalb muss er immer auf der Hut sein, was er unter der Folter offenbart.

Zusätzlich macht Maier sich in Haft auch noch Gedanken um die Rolle des hohen Klerus der offiziellen katholischen Kirche (wie Kardinal Innizer) beim Anschluss Österreichs an Nazideutschland und benennt auch oft Land-Priester in untergeordneten Rollen, die aus moralischen Gründen zwingend im Widerstand operieren und ihr Leben riskieren. Er will nicht wahrhaben, wie echte Gläubigkeit an Gott mit dem Regime und den Taten der Nazis vereinbar sein kann.

Zwischen den Verhören analysiert er auch noch die historische Gesamtsituation, respektive wie es zum Anschluss Österreichs an Deutschland gekommen ist und macht sich über Adolf Hitler lustig. Den Vertrag von Versailles bezeichnet er als Unterdrückung und als Ursache für ökonomische Verzweiflung und Hass. Das haben die Nazis vortrefflich genutzt. Ein historisches Detail am Rande, das ich bisher nicht gewusst habe, wird in diesem Buch auch offenbar. Österreich hat sogar bei den Vereinten Nationen um Hilfe angesucht, als der politische Druck und das Kriegsgerassel Nazideutschlands überhandnahmen, doch kein Land außer Mexiko wollte Österreich unterstützen. Chamberlain meinte sogar, wenn Hitler Österreich bekommt, sei sein Hunger gestillt und Europa könne in Frieden leben. Was für eine fatale Fehleinschätzung.

Maier hat Hitler sehr bald misstraut, er nennt ihn respektlos „die manische Rotzbremse“. Den Hitlergruß sieht er als Geste der Unterwerfung und Entmenschlichung.

„Man gibt sich nicht mehr die Hand als ein Zeichen des Friedens und der Verbundenheit, sondern hält Schulter an Schulter eine Armlänge Abstand. Als wäre der andere per se gefährlich. So schafft man durch Abstand die Voraussetzung für Mord und Totschlag schon im Kleinen. Man gibt sich nicht mehr die Hand, grüßt sein Gegenüber nicht mehr als ein Individuum, als Maria oder Klaus, stattdessen wünscht man der Rotzbremse Heil. Verrückt! […]

Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. […] Die Rotzbremse führt die halbe Welt in Tod und Verderben. Es ist zum Verzweifeln!
Diese zeitlose Dummheit ist wie ein Virus, der alle ansteckt und das Denken lähmt. […]

Gesetze kommen und gehen, die Moral, das Gewissen bleibt. Kein Führer, kein Volksganzes, was auch immer das sein soll, und auch keine Vernunft kann der Moral Grenzen setzen.“

Sehr genau werden in der Romanbiografie minutiös mit Zeit- und Ortsangaben die Verhöre aus den Protokollen nachgestellt und die Phasen dazwischen in der Zelle rekonstruiert.

Nachdem die Gestapo ein paar Mitglieder aus Maiers Widerstandsgruppe verhaftet hat, erlauben sie Gefängniskaplan Köck, dass er Maier besuchen darf. Seine Aufzeichnungen sind in die Charakterisierung des Protagonisten in der Romanbiografie eingegangen. Am Ende der Tortur nach Maiers Verurteilung zum Tode scheint sich sogar ein Lichtblick für den Pfarrer abzuzeichnen, denn die Handlung ist im Frühjahr 1945 angelangt. Er schöpft kurz Hoffnung, dass der Krieg vor der Vollstreckung des Urteils beendet sein könnte. Leider ist dem nicht so und Maier ist bei den letzten vollzogenen Todesurteilen dabei.

Auf Seite 175 endet die Romanbiografie aus Sicht des Priesters und wird nun durch einen neutralen historischen Abriss mit Hintergrundmaterial zum Fall Maier und der politischen Situation des Widerstands in Österreich flankiert. Das war für mich noch das i-Tüpfelchen auf einem schon bis dato guten Buch.

Hier habe ich richtig viel gelernt, denn durch die Verdrängung alles NS-Geschehens in Österreich, indem man sich als erstes Opfer Hitlers bezeichnete, wurde nämlich auch noch etwas anderes unter den Tisch gekehrt: die Sichtbarmachung des Widerstandes.
Oft beneide ich Deutschland um seine Aufarbeitungskultur. Ich schwöre, ich habe die Nazizeit noch nie im Geschichtsunterricht in der Schule durchgemacht, das mag daran liegen, dass ich zweimal die Schule gewechselt habe, aber auch meinem Mann und einigen anderen ging es genauso. Meine erste Erfahrung und Aufarbeitung dieser Epoche habe ich durch den Fernsehfilm Holocaust erhalten. Diese massive Verdrängung damals hatte aber auch zur Folge, dass ich gar nicht gewusst habe, dass es in Österreich doch ordentlich Widerstand gegen Hitler gegeben hat. 100.000 Personen, also fast 2% der erwachsenen Bevölkerung waren aktiv im Widerstand und riskierten ihr Leben, die Zahl der Sympathisanten und Helfer lässt sich seriös nicht abschätzen. Ich dachte immer, bis auf ein paar löbliche Ausnahmen waren fast alle letztendlich mehr oder weniger begeisterte Nazis, was möglicherweise auf die Bevölkerung von Linz zutreffen mag, für die jubelnde Menge am Wiener Heldenplatz mussten aber lastwagenweise Fans aus den Bundesländern nach Wien gekarrt werden, um als Kulisse für Hitlers Rede zu fungieren.

„Der Umgang Österreichs mit seinen Widerstandskämpfern ist bis heute in vielerlei Hinsicht ein trauriges Kapitel der jüngeren Geschichte. Es scheint von einer Mischung aus kurzfristig-unmittelbarem Pragmatismus, Opportunismus sowie einer Art unterdrücktem Schamgefühl geprägt zu sein. […]

In diesem harmonischen Bild eines neuen, mit dem Abzug der alliierten Truppen auch freien Österreich war kein Platz für jene, die ‚damals‘ auf der anderen Seite standen. Sie störten das Bild der Harmonie und waren eine stete Erinnerung an jenes ‚Damals‘, das man, meist schweigend, hinter sich lassen wollte. […]

Und die überlebenden Widerstandskämpfer selbst? Die wollten, wie alle anderen auch, nach Krieg und Not ein normales Leben führen. Die meisten fügten sich dem Konsens vom gemeinsamen Neuanfang, dem Schlussstrich unter ‚damals“‘ oder trugen diesen Neuanfang, großzügig schweigend mit.“

Ein paar Mal waren mir persönlich die religiösen Übungen des Herrn Pfarrer Maier in der Haftzelle etwas zu ausschweifend, aber das liegt daran, dass ich sieben Jahre in einer katholischen Klosterschule mit Halbinternat verbrachte, was mir eine Allergie diesbezüglich bescherte. Ansonsten gibt es bis auf ein paar kleine Redundanzen so gut wie nichts an diesem Werk zu kritisieren.

Fazit: Ein wichtiges Stück Geschichte, konzeptionell ausgezeichnet als Romanbiografie mit Hintergrundanalyse aufbereitet. Der derart dargestellte österreichische Widerstand liefert neue Aspekte der NS-Ära und ist auch jedem, der sich für die Nazizeit interessiert, wärmstens ans Herz zu legen. Klare Leseempfehlung!

 

Gefangener 2950, Buchrezension; Foto mit Buckdenkel in der Kirchenbank - kekinwien.at

Gefangener 2950, Buchrezension – kekinwien.at

 

 

Gefangener 2959
Bernhard Kreutner

 

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783711002532
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Fester Einband
  • Umfang: 256 Seiten
  • Verlag: Ecowin
  • Erscheinungsdatum: 18. März 2021
  • gesehen um Euro 24,00
(Beitragsbild: Gefangener 2959, Roman von Bernhard Kreutner, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)

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