Die Vegetarierin, ein Roman von Han Kang

Die Vegetarierin, Han Kang, Buchcover, Bild (c) Alexandra Wögerbauer -Flicker - kekinwien.at

Die Vegetarierin von Han Kang

Die großartige Geschichte der gescheiterten Selbstbestimmung einer Frau.

Dieses Buch hat mich überhaupt nicht verstört, sondern restlos begeistert. Auch finde ich gar nicht, dass der Roman Vegetarismus thematisiert oder wohin eine solche Lebensweise führen kann. Für mich ist es die Geschichte einer Frau, die verzweifelt um ein kleines bisschen persönliche Autonomie in einer komplett übergriffigen Umgebung kämpft und die permanent von der gesamten Familie mit Gewalt und mit Hilfe des Systems wieder auf „Linie“ gebracht wird.

Der erste Versuch eines Befreiungsschlages passiert tatsächlich über die Ernährung, ein kleiner, sehr eng gezogener Teilbereich, in dem die Protagonistin Yeong-Hye bis zum Start der Geschichte zumindest ein Fünkchen selbstbestimmt leben konnte.

Yeong-Hye, die Vegetarierin, führt ein völlig fremdbestimmtes, furchtbares Leben.

Ihr Vater hat sich in ihrer Kindheit im Gegensatz zu ihren Geschwistern sie als fast ausschließliches Opfer seiner Gewaltorgien ausgesucht. Erstens, weil sie so duldsam war und weniger aufmuckte, und zweitens weil sie als jüngeres Kind zu wenig Nutzen in die Familie einbrachte. Der Bruder war schon von Geburt an per se als zukünftiges Familienoberhaupt unentbehrlich und die ältere Schwester war auch nützlich, da sie den zumeist betrunkenen Vater bediente. Auch ihre Ehe ist furchtbar. Sie hat sich am Rollenbild des Vaters orientiert und einen gefühlskalten Mann gewählt, der sie nicht liebt, sie als Dienstbotin und „Fickfetzn“ missbraucht. Er sagt selbst, dass er sich deshalb eine unscheinbare, duldende graue Maus zur Ehefrau genommen hat, weil er meint, sich dann in der Beziehung nicht anstrengen zu müssen und glaubt, sich komplett gehenlassen zu dürfen.

Der Traum von der Autonomie

Nun nimmt sich Yeong-Hye auf Grund eines Traumes ein kleines Fünkchen Autonomie entgegen den üblichen gesellschaftlichen Konventionen heraus, obwohl im Roman auch mehrmals betont wird, dass es bereits einige Vegetarier in Korea gibt. Und wie reagiert ihre Umgebung darauf, dass sie sich ein wenig anders ernährt?

Ich war sehr fassungslos, wieviel menschenverachtende, übergriffige Gewaltakte hier von den Männern ihrer Familie stattfanden: Der Ehemann ist zuerst konsterniert, da sie es wagt, ihm zum Frühstück kein Fleisch zuzubereiten. Dann stachelt er ihre ganze Familie auf, die sie zwingen soll, so zu essen, wie er es will. Er vergewaltigt sie auch noch, weil sie sich ihm im Bett verweigert, da er für Yeong-Hye nach Fleisch riecht. Der Vater prügelt sie und versucht, ihr mit Gewalt Fleisch in den Mund zu schieben. Die restliche Familie schaut zu, niemand findet etwas dabei dabei und keiner schreitet gegen diese Übergriffe ein. Im Gegenteil. Unter dem Deckmantel der „Sorge“ in unbedingter Anpassung an die Normen der Familie und an das patriarchalische System werden diese Schandtaten sogar noch als Akte der Liebe schön geredet.

Im Prinzip geht es in diesem Roman nicht um Vegetarismus, sondern um die Abwehr von permanenter Vergewaltigung von Frauen: sexuell, geistig, und emotional. Eine Art von Emanzipation in einem patriarchalischen System, das auf dem Brechen von weiblichen Seelen beruht. Der erste, eigentlich sehr harmlose Ausbruch der Emanzipation scheitert an der gesamten Umgebung und deren Gewalttätigkeit. Er endet für die Hauptfigur mit einem Selbstmordversuch und einem kurzen Aufenthalt in der Psychiatrie.

Von der Autonomie in die Psychiatrie

In Teil Zwei versucht Yeong-Hye neuerlich in einem ganz beschränkten Autonomiebereich auszubrechen, indem sie ihre sexuelle Selbstbestimmung auslebt. Ihr Mann hat sie verlassen und sie schläft – selbstverständlich wieder einmal gegen alle gesellschaftlichen Konventionen, die so in Korea herrschen – mit ihrem Schwager, was zwar nicht nett, aber sicher nicht kriminell oder verrückt ist, so wie es die Familie darstellt. Die geschilderten Szenen im Roman waren wundervoll und sehr erotisch wie die beiden quasi als bodygepaintete Pflanzen sowohl ein Kunstwerk kreieren als auch den Akt vollziehen. Leider wird das Paar erneut erwischt und die Familie versucht ein weiteres Mal mit staatlicher Gewalt, ein Verhalten etwas abseits der strengen Normen völlig unverhältnismäßig zu bestrafen. Der Schwager wird angezeigt und muss vor der Polizei flüchten, Yeong-Hye wird wieder in die Psychiatrie gesteckt.

Täter-Opfer-Umkehr

Im letzten Teil bleibt Yeong-Hye permanent eingesperrt und von der Familie und Schwester abgeschoben – kein Fünkchen Selbstbestimmung mehr. Als sie aus der Anstalt heraus will, wird ihr das verweigert, also hört sie konsequenterweise irgendwann ganz mit dem Essen auf und wird zwangsernährt. Das Gruseligste ist, dass sogar ihre Schwester, die natürlich auch grollt, weil Yeong-Hye ja mit ihrem Mann geschlafen hat, die aber dennoch ein Mensch mit einem kleinen Rest an Gefühlen ist, nicht nachvollziehen kann und will, dass nicht die Familie auf Yeong-Hye mit mehreren moralisch nicht ganz korrekten Aktionen reagiert hat, sondern dass ihr Verhalten immer eine Folge der vorausgegangenen Gewaltakte der Familie war. Hier wird permanent eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben.

Lediglich das Ende gefällt mir nicht so gut. Ich hätte mir einen Abschluss gewünscht. Entweder als letzte Konsequenz den Tod von Yeong-Hye, oder dass wenigstens ihre Schwester irgendeine Entwicklung durchmacht. Aber das ist eine Petitesse, die meine begeisterte fünf Sterne-Bewertung des Werkes absolut nicht trüben kann.

Fazit: Großartig! Für mich ist „Die Vegetarierin“  eines der drei besten Bücher, die ich 2017 gelesen habe zusammen mit Report der Magd von Margaret Atwood und Eine allgemeine Theorie des Vergessens von Jose Eduardo Agualusa. Jetzt muss ich gerade schmunzeln, denn alle drei haben irgendwann mal den Man Booker Prize oder den Man Booker Interntational Prize gewonnen.

 

Die Vegetarierin, Han Kang, inmitten einer vegetarischen Buchauswahl, Bild (c) Claudia Busser - kekinwien.at

Die Vegetarierin, Han Kang, inmitten einer vegetarischen Buchauswahl, Bild (c) Claudia Busser – kekinwien.at

 

Die Vegetarierin, Han Kang

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe „Die Vegetarierin“ : 15.9.2017
  • Verlag : Aufbau Verlag
  • ISBN: 978-3-7466-3333-6
  • Übersetzer/in: Ki-Hyang Lee
  • Taschenbuch: 190 Seiten
  • gesehen um Euro 10,30

 

 

Dein Kommentar

keke Spam-Abwehr: *