Tolstoi war nie mein Fall.
Die Verflechtungen der Schicksale waren mir oft zu simpel gestrickt.
Dostojevski faszinierte mit seinen dramatischen Handlungssträngen und tief präsenten Charakteren schon sehr viel mehr.
Dennoch sah ich der Neuverfilmung von Anna Karenina durch Joe Wright mit Spannung entgegen.
Der Brite bewies in den letzten Jahren mit stimmigen Zelluloid-Versionen von Jane Austens Stolz und Vorurteil sowie Ian McEwans Abbitte cineastische Qualität. Die Gründe für meine Erwartungshaltung lagen in der vom Regisseur selbst ausgerufenen Meisterleistung und dem volatilen Produktionsverlauf.
Das Budget musste nach dem Absprung von Sponsoren kurz vor Drehbeginn radikal gekürzt werden. Ein kreativer Orgasmus des Drehteams war also gefragt, oder war zwischen eigenen Ansprüchen und versandenden Ressourcen eine unüberbrückbare Kluft entstanden?
Die Operation ist gelungen.
Als Tugend in der Not wechselt die Szenerie spritzig und gut geschnitten zwischen Bühnenbildern des Theaters und thematisch passendem Freiraum. Die berühmte, das Schicksal der Protagonistin symbolisch voraussagende Bahnhofsszene ist frisch und bedeutungsschwer zugleich komponiert.
Jude Law hat als Karenin wenig Gelegenheit zur Parade und spielt seinen Part solide. Wunderbar passen Keira Knightly als Anna und Shooting Star Aaron Taylor-Johnson als Vronsky zueinander, sie eine Mischung aus Unschuld und Passion, er ein beherrschter Held mit Tiefgang.
Die Modernität des Trilemmas von Anna Karenina zwischen Ehemann, Geliebtem und Sohn wird in dieser Kinofassung exzellent herausgearbeitet. Ihre gesellschaftliche Ächtung bildet – dem Zeitgenössischen geschuldet – nur einen der Hintergründe, wenngleich der Roman bei seinem Erscheinen natürlich einen Skandal ersten Ranges hervorrief, der eine reale Anna Karenina viel früher als die Romangestalt zerstört hätte.
Parallel zur Hauptachse und bedingt dadurch verläuft die zweite Liebesgeschichte zwischen Vronskys enttäuschter Verlobter Kitty (Alicia Vikander) und dem Gutsbesitzer Levin (Domhnall Gleeson) glücklich. Der Kitsch dieser Romanze wird von Wright elegant aufgetragen und erinnert an Baz Luhrmann.
Auch die Nebendarsteller sind hervorragend und die musikalische Untermalung elegisch.
Das Drehbuch wurde übrigens vom britischen Dramatiker Sir Tom Stoppard (u.a. Rosencrantz and Guildenstern are Dead) verfasst.
Dringende Empfehlung an cineastische Theaterbesucher.
Anna Karenina
UK, 2012, 130min
Drehbuch: Tom Stoppard (basierend auf Anna Karenina von Leo Tolstoi)
Regie: Joe Wright
mit Keira Knightley, Jude Law, Aaron Taylor-Johnson, Alicia Vikander,…
läuft im Moment in folgenden Wiener Kinos
Hier noch ein Tipp zum Schluss, die sehr amüsante Kritik der New York Times:
http://movies.nytimes.com/2012/11/16/movies/anna-karenina-from-by-joe-wright-with-keira-knightley.html?nl=movies&emc=edit_fm_20121116&_r=0