Gleich vorab: Nachtzug nach Lissabon ist ein wirklich schöner Film.
Innen und außen.
Den dem Film zugrunde liegenden Roman von Pascal Mercier (alias Peter Bieri) habe ich nie zu Ende gelesen, ich gestehe.
Raimund Gregorius (Jeremy Irons) ist Altphilologe und unterrichtet Latein an einem Gymnasium in Bern. Die Heranwachsenden respektieren den leisen Intellektuellen in Tweed und Cord, er lehrt sie mehr als tote Sprachen. Geschieden, ein wenig vereinsamt und den immer gleichen Abläufen seines Lebens verhaftet, wirft ihn die Begegnung mit einer jungen Frau aus der Bahn. Er rettet sie vor dem selbstmörderischen Sprung von einer Brücke, sie verschwindet und lässt ihren Mantel zurück. Darin ein antiquarisches Buch: „Ein Goldschmied der Worte“ von Amadeu de Prado in portugiesischer Sprache. Bei seinen Nachforschungen entdeckt Gregorius eher zufällig ein Zugticket nach Lissabon in dem kleinen philosophischen Bändchen und hofft zum Abfahrtszeitpunkt am Bahnhof die geheimnisvolle Besitzerin von Buch und Mantel erneut zu treffen. Doch sie zeigt sich nicht. Nach einem kurzen Moment des Zögerns steigt Gregorius selbst in den Zug.
Wir begleiten den Professor vom verregneten Bern ins lichte Portugal und lernen dort gleich die zweite Hauptdarstellerin des Films kennen: Lissabon. Noch nicht abgefilmt bis zum Gewöhnungseffekt, voll südlichem Charme, ocker, rot und goldfarben lockt sie Gregorius nach und nach aus der Reserve. Der Professor ist vom Inhalt des Buches und seinem Autor fasziniert. Er entdeckt bei seinen Nachforschungen eine Geschichte voll Idealismus, Liebe, Freundschaft, Eifersucht und Grausamkeit in der Zeit der Salazar-Diktatur …
Mit dem Fortschreiten der Kenntnis der Lebensgeschichte Amadeu de Prados, die wir in geschickt portionierten Rückblicken erleben, verwandelt sich der in seiner kultivierten Routine gefangene Professor in der Gegenwart zusehends. Gespannt und tief in die Geschehnisse hineingezogen folgt man der Handlung, die zwischen Thriller und philosophischer Literaturverfilmung oszilliert.
Jeremy Irons lässt uns teilhaben wie er einen Mann spielt, „bei dem die Aktion hauptsächlich in seinem Kopf stattfindet d.h. ich bin gezwungen sehr wenig, ja fast nichts zu tun.“ Und das tut er brillant. Dass er gern mit dem Regisseur Bille August zusammenarbeitet, versteht man spätestens nach dessen Aussage: „Auch die Schauspieler lassen einen neue Dinge entdecken, wie eine Reise ist ein Dreh ein fortlaufender Prozess.“
Großartig die Besetzung bis in die kleinste Nebenrolle, ein opulentes Staraufgebot an Könnern: Martina Gedeck als Optikerin Mariana spricht in der Originalfassung ein entzückendes Englisch mit portugiesischem Akzent, beeindruckend das Wiedersehen mit Charlotte Rampling (als Adriana der Gegenwart) und Christopher Lee (Vater Bartolomeu). Mélanie Laurent (Estefania) und August Diehl (der junge Jorge O’Kelly) haben schon in Inglourious Basterds zusammen gearbeitet, das Wiedersehen mit Lena Olin und Bruno Ganz macht Freunde.
Zarten Seelen sei empfohlen kurz den Blick abzuwenden, wenn Mendez (Adriano Luz), „der Schlächter von Lissabon“ in der Folterszene seinem Handwerk nachgeht. Es war übrigens die Absicht des Regisseurs die Grausamkeiten der Diktatur so wenig drastisch wie möglich zu zeigen.
Pascal Mercier zeigt sich mit der Verfilmung seines Romans durchaus einverstanden: „Mit diesem Film lässt man das Gestrüpp und Dickicht des alltäglichen Lebens hinter sich und tritt auf eine Lichtung hinaus.“ Es ist dieses Gefühl, wenn man in den nächstbesten Zug am gewohnten Bahnhof steigt, einfach, weil er der nächste ist. „Wissen Sie nicht, dass man sein Leben in jedem Augenblick verändern kann?“, sagt Gregorius zu der Selbstmörderin. Genau.
Für Festgefahrene, Liebende, Nostalgiker und Nachdenker.
Schön wäre nach dem Filmgenuss ein Platz auf einer Dachterrasse mit Blick übers Meer; zweitbestens geht man ins Senhor Vinho oder besser noch ins Restaurant Baracca.
Nachtzug nach Lissabon
2012, Deutschland/Schweiz/ Portugal, 110min
Drehbuch: Greg Latter, Ulrich Herrmann
Regie: Bille August
mit Jeremy Irons, Mélanie Laurent, Jack Huston, Martina Gedeck, Tom Courtenay, August Diehl, Bruno Ganz, Lena Olin, Christopher Lee, Charlotte Rampling, Burghart Klaussner, …
Der Film kommt am 8.3.2013 in die Wiener Kinos.
kekinwien
Viele Kritiker bewerten den Film als zu nostalgisch und zu wenig die Diktatur unter Salazar beleuchtend. Unser Standpunkt: darum geht es in Nachtzug nach Lissabon schlicht nicht.
Ab heute im Kino!
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