Eine Brotreise über die Wiener Märkte
Vom Vorgarten bis zum Kutschkermarkt – mit Verkostungen bei den Marktbäckereien Brotocnik, Gragger&Cie, Gragger&Chorherr und Kasses
Peter Filzmaier erklärt uns in der ZIB 2 alles über das Brot unserer Zeit. Er erläutert, warum die Bevölkerung Weizen, Dinkel, Roggen oder lange vergessenes Getreide wählt, welche Rolle dabei Vollkorn, Gluten, ganze Körner oder fein Vermahlenes spielt und was Bioqualität langfristig ausmacht. Die Zuseher_innen bekommen einen wirklich durchschaubaren Überblick und eine fundierte Analyse. Die Mehrheit hat sich diesmal für Qualitäts-Backwaren entschieden.
Ein Wunschtraum. Dann wache ich auf.
In der Realität ist es wohl nur eine kleine ‘Brotblase’, die sich mit richtig gutem Brot beschäftigt und wirklich kennen sich wohl nur die wenigsten aus.
Der Mehrheit hat die Werbung eingetrichtert, dass Brot ‘frisch’ sein muss. Das ist gut für den Supermarkt, denn am nächsten Tag ist industrielles Brot ungenießbar und man muss wieder ins Geschäft.
Brot war lange das alleinige Hauptnahrungsmittel unseres kulturellen Ursprungs. Das tägliche Brot für einen Großteil der Bevölkerung am Land wurde maximal einmal in der Woche im Holzofen der Bauernhöfe gebacken. Dass gutes Brot wochenlang hält, können sich heute viele nicht mehr vorstellen.
In Wien wird täglich so viel Brot weggeworfen, wie in Graz gegessen wird.
Ich fürchte, daran hat sich auch mit dem neuen Kult ums (Sauerteig-) Brot und einigen kleinen Initiativen nichts Wesentliches geändert!?
Nur langsam sickert die Achtung von Brot wieder in die Mehrheitsgesellschaft.
Barbara van Melle von Slow Food Wien bemüht sich darum. Sie hat das ‘Volksfest’ Kruste und Krume initiiert und verkauft die besten Mehle, die es zum Brotbacken in Wien gibt.
Mit dem brandneuen Motto Brotladen in der Mariahilferstraße ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung getan.
Schon ist das französisch orientierte Motto Brot in aller Munde. Das Baguette kann ich für alle, die wissen wollen, wie echte Tradition schmeckt, unbedingt empfehlen. Man beachte den kompakten Kauwiderstand, resch dagegen gehört ein Semmerl!
VORGARTENMARKT
Gragger&Cie
DER Markt für Brot ist für mich der VORGARTENMARKT im 2. Bezirk.
Seit 2015 gibt es dort eine offene Holzofen-Schau-Bäckerei. Während man die Wärme spürt und den Brotduft genießt, kann man, wenn man zur richtigen Zeit kommt, beim Einheizen zuschauen oder beobachten wie die Teiglinge in und aus dem Ofen geschoben werden.
Hier bäckt Gragger&Cie Biobrot, das ganz eindeutig zum Besten vom Besten gehört.
Eine spezielle Geschichte (die mit dem besten Brot in Paris zu tun hat) steckt hinter dem ‘P-Brot’, das Helmut Gragger entwickelt hat. Es besteht aus 80% Weizen und 20% Roggen, hergestellt mit Natursauerteig. Damit kann man zurecht berühmt werden! Seit dreizehn Jahren schmeckt es immer wieder ein wenig anders, was wohl an die jeweiligen Bäckershänden liegt, es ist aber immer eines meiner Favoriten.
Ein Klassiker im Sortiment ist Panem Alta Murgia (eigentlich Pane di Altamura, aber der Name ist mittlerweile regional geschützt). Das leicht gelbliche Brot mit dem erdigen Duft besteht aus 100% Hartweizenmehl, stammt ursprünglich aus Apulien, wo es natürlich im Holzofen gebacken wird. Manche Bäckereien nennen dieses weiche, feinporige Weißbrot auch ‘Pulinese’. Für die Spezialist_innen – da ist ein Vorteig und Hefe im Spiel.
Beinahe alle Holzbrot-Backöfen in Wien hat Helmut Gragger und seine Kompanie gebaut.
Gragger&Cie betreibt mehrere Verkaufsfilialen und beliefert viele Bioläden.
Graggers Teammitglieder sind auch echte Marktfahrer_innen und stehen am Samstag auf dem Naschmarkt, Karmelitermarkt, Kutschkermarkt, in Leonding und Steyr, am Freitag am Linzer Stadtmarkt und in Purkersdorf, am Donnerstag am Wiener Servitenmarkt. Manchmal poppt auch irgendwo ein Stand auf, von dem man gar nicht weiß, dass er angekündigt war (siehe facebook und instagram).
Gragger&Chorherr
Das Brotrad
Christop Chorherr hat mit Helmut Gragger vor einem Jahr eine weitere Bäckerei gegründet.
Eigentlich wäre es naheliegend, dass es das bei Gragger&Cie schon lange sehr beliebte ‘Florianer Chorherrn Brot’ auch bei Gragger&Chorherr gibt (80% Roggenmehl, 20% Weizenmehl, mit den traditionellen Brotgewürzen Kümmel, Fenchel, Koriander). Bei Gragger&Chorherr entspricht dem am ehesten der ‘Mühlviertler Vollkornlaib’. Wieviel dabei weniger ausgesiebt und damit höher der Vollkornanteil ist, müsste man wohl mit den Bäcker_innen oder vielleicht sogar Müller_innen direkt besprechen.
Beides ist ein typisches österreichisches Brot, wie man es von früher kennt: dicht, fest und saftig.
Das Angebot ist also bei den beiden Bäckereien nicht das Gleiche, – aber ohne Salzstangerl kann man bei keinem der Graggers wieder weggehen!
Das Brotrad von Grager&Chorherr fährt an unterschiedlichen Tagen derzeit folgende Märkte an:
Naschmarkt, Karmeliter-, Yppen-, Volkert-, Johann-Nepomuk-Vogel und Meidlinger-Markt.
Es ist schon fast einfacher aufzuzählen, welche Märkte das Graggerbrot (noch) nicht erreicht und dort könnte man, durchaus mit Erfolgsaussicht, anregen, dass ein Bio-Holzofen-Brot-(Rad)-Stand hinkommt. Vielleicht hat man Glück und beglückt weitere Brotliebhaber_innen.
VORGARTENMARKT
Kasses
Seit der ‘Wilde Osten’ am Vorgartenmarkt eingezogen ist, gibt es dort auch Brot vom Urvater der neuen österreichischen Brotkultur Erich Kasses. Er selber sagt von sich, er sei ein Brotnarr. Das Backhandwerk betreibt die Familie Kasses schon in der 4. Generation, jetzt sind die Töchter am Werk!
Seit jeher kennt man bei Kasses das Geheimnis für das beste Brot: “Wenige Zutaten, viel Zeit!”
Den nachhaltigsten Eindruck hat bei mir vor vielen Jahren Kasses Ciabatta Rotonda hinterlassen. Für dieses Brot gehe ich nach wie vor sehr weit. Es ist vielleicht die Urform dessen, was heute beim Brot am beliebtesten ist, eine knusprige Kruste mit weichem, großporigem, saftigem Innenleben. Das italienisches Graubrot wird mit verschiedenen Sauerteig- und Vorteigkulturen kultiviert und zwei Mal 24 Stunden in Olivenöl gelagert. Zum ersten Mal gebacken hat es Erich Kasses mit einem italienischen Bäcker, den er beim Adriaurlaub kennen gelernt hat. Ein ganz anderes Erlebnis als die ‘Papiersemmerl’, die viele österreichischen Kinder in den 1970er Jahren beim italienischen Hotelfrühstück geliebt haben.
Am Vorgartenmarkt kann man selber in die Glut schauen und Broterfahrungen vom wilden Polen bis ins alte Italien austauschen, vielleicht wird man dann auch ein bisserl brotnarrisch.
Kasses Brot findet man in Wien sonst auch bei Pöhl & Mayer am Kutschkermarkt, Pöhl am Naschmarkt, Kaas am Karmelitermarkt, neu bei Heu und Gabel am Meidlingermarkt und am Samstag vor dem Staud Pavillion am Yppenmarkt sowie in Geschäften mit großen Namen und bei kleinen Geheimtipps.
KUTSCHKERMARKT
Brotocnik
Die wahrscheinlich größte Markt-Brot-Auswahl findet man im Feinkostladen Pöhl & Mayr aud dem Kutschkermarkt. Man kann sich kaum entscheiden zwischen Brot und Gebäck der Bäckereien Kasses, Öfferl, Grimm, Joseph, Felzl, Schmidl und Kolm.
Im Gebäude Kutschkergasse 33 bietet die Familie Bauer in ihrem Bioladen ‘Der Bauer’ eigene Produkte, sowie die von Freunden und Nachbar_innen aus dem Weinviertel an. Zudem findet man hier das ganz besondere Brot von Brotocnik.
Fritz Potocnik war der Mann fürs Brotbacken hinter Joseph, seit 2016 bäckt er wieder für sich selber und zum Glück auch für uns.
Bei den zwanzig Brot- und zehn Gebäckarten fehlt mir noch immer der Durchblick. Unbedingt bald wieder probierenden muss ich den Erdäpfeltoast, den Waldstaudenroggen Kasten und den Waldviertlerlaib mit der knusprigen Kruste und luftigen Krume, der „hell“ und „dunkel“ angeboten wird.
Wer von den beiden Waldviertlern das beste Ciabatta kann – Kasses oder Brotocnik – wäre eine Verkostung wert. Weil nicht alle Verkaufsstellen alle Brotsorten anbieten, könnte man sich dazu am Karmeliter- oder Kutschker-Markt die „Pantoffeln“ (wörtliche Übersetzung) vorbestellen. Bestellungen nehmen die meisten Brotstände gerne an: Je besser sie wissen, was gewünscht wird, umso weniger bleibt liegen.
Das Gebäck der beiden Ausnahme-Bäckermeister findet nur leider selten den Weg nach Wien; damit ist die Bestellliste schon wieder länger …
Neben dem Kutschkermarkt habe ich Brotocnikbrot schon im Zimmer37 am Karmelitermarkt entdeckt. Man findet es auch in der Weinviertlerie am Schwendtermarkt, beim LGV Gartengschäftl in der Kettenbrückengasse, am Brusatti Markt in Baden und jeden 2. und 4. Samstag am Regionalmarkt in Horn. Der Bäcker hat jeden Samstag einen Stand am neuen Markt in Retz. Vielleicht liegt es auch dort, wo man sonst noch Besonderes einkauft.
Weil der Standort Kutschkermarkt unübersehbar hipp ist, stehen sich dort jetzt Öfferl und Joseph Brot direkt in der Währingerstraße gegenüber.
Am Samstag Vormittag wird das überreiche Kutschkermarkt-Brotangebot, wie oben erwähnt, erweitert von ‘Gragger&Cie’ und noch von der einen oder anderen Marktfahrer_in, aber soweit ich den Überblick behalten konnte, keinem weiteren Biobrot.
Wird die neue Liebe zum guten Brot jetzt jemals wieder vergessen werden zugunsten von Fertigbackmischungen, die in mit aller unnötigen Chemie in einem ‘Packerl drin’ sind? Eine Backmischung, die aus dem Tankwagen direkt in den Backshop geblasen, nur mehr mit Wasser vermengt und unverzüglich von der Maschine geformt und gebacken werden. Die Zeit, die beim Backen eingespart wird, ist das Geld der Industrie. Schon war die lebendige Backkultur im Museum abgestellt.
Die Rettung kam mit dem ersten Corona-Lockdown. Zumindest könnten wir uns ‘die Geschichte’, wenn sie gut ausgeht, so erzählen. Wie viele hatten plötzlich zu viel Zeit, haben selbst zu backen begonnen und gelernt, was gutes Brot ausmacht!?
Die Hefe war ausverkauft, dabei benötigt man zum Brotbacken eigentlich gar keine Hefe. Die beste Luft ins Brot bringt man meist nur mit Natursauerteig. Der entsteht aus Mehl, Wasser – und Zeit.
Der ganze deutschsprachigen Raum von Murau bis Husum hat mit Christine, einer Bäuerin und Pensionswirtin aus dem Lungau, gebacken:
www.backenmitchristina.at
Wir Netzbobos haben uns von Claudio Perrando (jetzt Motto Brot) und anderen Brotgurus inspirieren lassen.
Aber schon haben nur mehr die wenigsten Zeit zum Selbermachen.
Wie gut, dass einem auf jedem Markt (und natürlich auch in den Geschäften) die höchste Schule der Backkunst entgegenlacht, da überlässt man den Bäckerinnen und Bäckern gerne das Terrain.
Das Backen von kleinen Keksen haben die Großen des Backhandwerks natürlich auch im Programm.
(Beitragsbild: Brot auf dem Markt © Mischa Reska – kekinwien.at)