UPDATE Juli 2017:
Die Marktwirtschaft in 1070 Wien wird mit Ende Juli 2017 wieder schließen.
Das Konzept der Markterei funktioniert nach wie vor.
Markterei versus Marktwirtschaft. Es ist ein Fest!
1. Markterei
Viele Menschen, gute Stimmung, viel zum Genießen! Immer an den Wochenenden, an denen die Markterei ihre Stände aufstellt …
Sie tut dies an sehr speziellen Orten: erst in der Brotfabrik, dann am Badeschiff, in Magdas Hotel, im Weghuberpark und diesen Dezember in der Alten Post in der Dominikanerbastei. Nach der Weihnachtspause geht es ab 22. Jänner 2016 weiter.
Die einen haben Spaß daran bei einem Glas Wein plaudernd den Tag zu verbringen, während die Kinder in geschützter Umgebung gut aufgehoben sind. Andere verkosten interessiert Spezialitäten wie Verjus, Pfeffersorten oder gar Insekten und führen mit den Anbieter_innen erstaunlich versierte Fachgespräche.
Die Bäckerei Kasses bietet abgestimmt auf die Erwartungen der Kund_innen, die hier gustierend Delikatessen kaufen, jetzt vor allem Klezenbrot und Weihnachtskekse, aber nicht seine breite Brotpalette, wie etwa am all samstäglichen Yppenmarkt. Dafür serviert Yppenplatz 4 bei der Markterei den Leberkäse im Kasses-Semmerl.
Und dann gibt es noch jeweils mindestens 30 andere ausgewählte Partner_innen, die Freitag nachmittags und am Samstag bis ca. 20.00 Uhr ihre Produkte anbieten – danach Party!
Ich würde die Markterei als Foodfestival bezeichnen.
Ein Markt im eigentlichen Sinne ist sie nicht.
2. Marktwirtschaft
Fröhliches Stimmengewirr empfängt einen seit Mitte November auch in der Siebensterngasse 21.
Kaffeeduft vom kaffee mik gleich beim Eingang, eine große Fensterfront und bunte ‘Deko’ locken nach hinten zur Bar und in den Lokalbereich. Quer durch die große Halle kommt man dorthin, vorbei an ebenso bunten Blumen, einem Standl mit Obst und Gemüse, Fleisch unter blinkenden Pokalen und einigem mehr, das darauf wartet erstanden zu werden. Man findet Bücher mit tollen Kochrezepten und sicher genug, um sich daraus ein Abendessen zu kochen, wird aber trotzdem man nicht umhin kommen, auch noch dem Supermarkt einen Besuch abzustatten.
Die Marktwirtschaft ist mit den Markt-Öffnungszeiten von Di bis Sa 9.00 – 20.00 Uhr (Gastro bis 24.00 Uhr)und So 9.00 – 18.00 Uhr eine praktische, sympathische Einkaufsmöglichkeit für Feinspitze.
Ein Markt im eigentlichen Sinn ist sie nicht.
3. Was ist ein Markt?
In manchen Fällen bieten in regelmäßigen Abständen diejenigen am zentralen Platz eines Ortes ihre Produkte an, die kein Geschäftslokal haben. Dadurch wird der Zusammenhalt im Ort gestärkt, Menschen aus der Nachbarschaft angezogen, in jedem Fall wird am Markttag mehr kommuniziert als an normalen Tagen.
Anderswo tingeln Marktfahrer von Marktplatz zu Marktplatz mit Produkten, die sie von weit her beziehen und bringen diese damit in Regionen, in denen sie eine Besonderheit darstellen. Dieser Markt erscheint fremdländisch und geheimnisvoll, bereichert das Leben um Produkte, Ideen und vielleicht auch Geschichten, die man sonst entbehren müsste.
Märkte mit dauerhaft gebauten Ständen und regelmäßigen Öffnungszeiten vereinen eine Vielfalt an Produkten und Menschen. Als kundige Einkäufer_in kann man an einem Ort Qualität und Preise vergleichen. Jede_r findet etwas für ihren oder seinen Geschmack, aber es gibt auch viel, das ‘nichts für einen’ ist. Ein solcher Markt bietet im Idealfall von frischer Milch bis getrockneten Bohnen alle Lebensmittel die ein Haushalt benötigt – und noch manches darüber hinaus.
Ein Markt ist keine Party für geladenen Gäste, sondern Kernpunkt einer Stadt, auch um unterschiedlichste Menschen zusammen zu führen. So wird Öffentlichkeit spannend, statt zu veröden, doch wir triften immer mehr auseinander, statt uns zu begegnen.
Als Jugendliche schließen wir uns gerne in Gruppen von anderen ab, Ernährung ist heute ein beliebtes Mittel, um das zu demonstrieren. Mit subtilen Codes vermitteln wir anderen sich nicht eingeladen zu fühlen. Unsere Gesellschaft leidet aber auch darunter, dass niemand mehr erwachsen werden will. Statt in der Öffentlichkeit eine Rolle zu übernehmen bleiben wir im Privaten.
Heutige, engagierte Städter_innen helfen Zum Beispiel zugleich den Flüchtlingen auf den Bahnhöfen und in sozialen Einrichtungen und ziehen sich dann in ihr geschütztes Umfeld zurück, wo sie kaum auf Asylsuchende oder auch nur Menschen andere Bevölkerungsgruppen treffen werden.
Oft hört man Sätze wie: „Auf unserem größten und zentralsten Markt, dem Naschmarkt, verkaufen ja nur mehr Ausländer“. Das trifft zwar teilweise zu aber stellt in keinster Weise das eigentliche Problem dar, das vielmehr in der Vereinheitlichung zu touristenkonformem Angebot besteht.
An unzähligen Ständen findet man die beinahe exakt idente ‚Deko‘: hübsch aufgelegte, getrockneten Früchte und gefüllte, eingelegte Gemüse in einer Zusammenstellung, wie man sie wieder nur am Naschmarkt findet. Der Schafkäse schmeckt überall gleich und ist auch schon lang nichts ‚ausländisches‘,‘ exotisches‘ mehr. Türkinn_innen wissen wo man einen besseren bekommt, und überhaupt kaufen hier keine Zuwanderer_innen ein.
Auf den hippen Samstagsmärkten, aber auch in der Markterei oder Marktwirtschaft, bieten nur ‚lokale‘ Menschen ‚lokale‘ Produkte an oder sie sind so gut integriert, dass man ihren ‚Herkunftshintergrund‘ nicht mehr erkennt. Zum Teil ist das so gewünscht, würde man es ändern wollen, wäre es aber gar nicht einfach sich gesellschaftlich zu öffnen.
Die beste Markt-Mischung an Angebot und Publikum schafft noch der Brunnenmarkt wenn er samstags auf den Yppenmarkt trifft, und in anderer wie auch geringerer Weise der Viktor Adlerplatz mit der Marktgasse sowie die Meislmarkthalle.
4. Märkte brauchen Vielfalt – in jeder Hinsicht.
Die jungen Macher_innen und das teilweise noch jüngere Zielpublikum der Markterei wie auch die vielleicht ein, zwei Generationen älteren Aussteller und Foodies in der Marktwirtschaft haben scheinbar wenig Interesse, sich in das diverse Treiben auf den bestehenden Märkten einzuklinken.
Dort fehlen sie aber, denn Märkte brauchen Vielfalt.
Einheitsware für ein Einheitspublikum braucht keinen Marktplatz, – und kann anderswo einfacher angeboten werden. Die Folge ist, dass die Märkte verfallen, durch andere Funktionen ersetzt werden und dass bald kein ‚echter Markt‘ mehr existent sein wird. Ein anregendes Stadtleben entsteht dort wo sich Menschen den Widersprüchen der Öffentlichkeit aussetzen und sich nicht auf abgekapselte Inseln zurückziehen. Richard Sennett hat ein paar interessante Bücher darüber geschrieben, wir werden aber immer mutloser um seine Warnung vor dem Verfall des öffentlichen Lebens zu beherzigen.
In den inneren Wiener Bezirken, wo das finanzkräftige Publikum wohnt und arbeitet, gibt es keine fixen Marktplätze und schon gar keine Markthallen. Nicht mehr! Sie wurden nach dem 2. Weltkrieg nicht wiederaufgebaut oder im Laufe der letzten 50 Jahre in angeblich zeitgemäßere Supermärkte und Einkaufszentren umgewandelt. Zuletzt haben wir so 2008 die faszinierende Landstraßer Markthalle verloren.
Wenn sich all die neuen, jungen Marktstandler_innen mit ihren Spezialitäten dort zwischen altherbebrachtem Gemüse und Fleischangebot angesiedelt hätten:
Was wäre der Ort heute für ein Fest, das ganze Jahr über und für alle!
Markterei & Marktwirtschaft
Markterei: www.markterei.at
Marktwirtschaft: www.marktwirtschaft.at
Unter dem Stickwort ‚auf dem Markt‘ findest du hier zahlreiche Artikel zu Märkten in Wien und anderswo.
Eva
Ganz mein Reden!
Verena
Toller Artikel! Du hast es am Punkt gebracht!!!
Neues ist gut und schön, darf aber schon lang Bestehendes nicht verschwinden lassen bzw. ersetzen.
Und ja, die Landstraßer Markthalle war eine Institution – schon als kleines Kind war ich mit meiner Mutter immer dort und ganz fasziniert von dem Flair und dem Angebot… jetzt ist sie leider Geschichte, weil sie u.a. einem Systemgastronomiebetrieb und einem Einkaufszentrum weichen musste… Sehr schade!
club
Während in anderen Metropolen der Welt Markthallen eine Institution darstellen bzw wiederentdeckt werden, ist Wien leider anders. Unverständlich, da gute Märkte hier sehr wohl einen Markt hätten …