Marktbericht Berlin:
Berlin ist nicht zum Paradies gereift.
Was ist passiert?
Hab ich in meinem Marktberichten nicht häufig von den bunten Berliner Märkten geschwärmt!? Voller Vorfreude auf schöne Markt-Entdeckungen und Erlebnisse bin ich diesen Sommer in die große Stadt gereist und war dann ein bisschen enttäuscht. Es ist gerade schick über Berlin zu mosern, je nach dem, wo man sich auskennt, eben in der Kunst-, Party- oder Mode-Szene. Da will ich mich jetzt nicht gedankenlos einreihen, sondern meinem individuellen Gefühl, dass die Märkte nicht mehr so toll und lustig sind, auf den Grund gehen.
Man war es Anfang des Jahrtausends gewohnt, dass Berlin in allen Bereichen vor neuen Ideen und Entwicklungen geradezu explodierte. Wenn heute keine Innovationen kommen und alles beim Alten (wie vor drei, vier, fünf Jahren) bleibt, ist man schon enttäuscht. Manches, dass sich in der ersten Euphorie von ‘Es ist in der großen Stadt Platz für alles!’ entwickelt hat, ließ sich auch mit viel Idealismus, Eigenengagement und Selbstausbeutung nicht aufrecht erhalten. Die Masse, das Große verdrängt das Feine, Kleine auf vielerlei Weise.

Da habt ihr den Salat: Teufels- oder Maus – Ohr? Auf dem Markt in Berlin – kekinwien.at
Berliner_innen bleiben gern in ihrem Kiez.
Berlin ist groß und man verschwendet ungern ständig viel Zeit darauf, um von einem Ende der Stadt ans andere zu fahren, sondern nutzt die Angebote, die sich ums Eck bieten. Wahrscheinlich sind aus diesem Grund die Wochenmärkte in den letzten Jahren immer mehr geworden. In bald jedem Kiez findet man jetzt am Samstag ein paar Marktstände zusammenstehen. Mit Gemüse (das recht oft Bio ist), meist ist auch Brot und Käse im Angebot. Fleisch und besonders Fisch sind selten geworden, oft sind noch ein paar nette kleine Kunsthandwerksstände dabei.
Und fast immer Streetfood Anbieter_innen! Da gibt’s dann nicht die immer gleichen Würstel oder Burger, sondern eine sehr spezielle internationale Auswahl an Speisen. Etwa japanische Tintenfischbällchen, polnische belegte Brote, oder lateinamerikanische Empanadas, die mit viel Liebe zubereitet werden – und ich gehe mit dieser Formulierung wirklich äußerst sparsam um, aber in dem Fall ist es absolut zutreffend.
Die steigende Anzahl an kleinen Märkten hat nach meinem Gefühl die bekannten großen Samstagsmärkte etwa am Winterfeldplatz, Kollwitzplatz oder Karl-Augustplatz ausgedünnt.

typisch deutsch und köstlich – Schmorgurken, auf dem Markt in Berlin – kekinwien.at
Die Preußen waren keine Genussmenschen.
Um die spezielle Berliner Situation zu verstehen, habe ich mich mit Udo Tremmel vom Büro für Kulinarische Maßnahmen getroffen:
‘Was die regionale Versorgung mit Lebensmitteln angeht, ist Berlin auch heute noch eine Metropole ohne Hinterland. Anders als in West- und Süddeutschland waren unter der ostelbischen Agrarverfassung die gutsbesitzenden Junker wenig an verfeinerten Lebensmitteln interessiert, sondern an einer Karriere in preußischen Militärkasten. Nach 1945 setzte die DDR dieses Erbe fort, indem sie große Agrarkomplexe nach sowjetischem Vorbild schuf. Trotz der politischen Wende 1889/90 blieben diese Strukturen auf nunmehr kapitalistischer Basis erhalten. In der Folge gibt es heute im Osten Deutschlands vor allem eine exportorientierte, großdimensionierte Agrarwirtschaft, aber kaum bäuerliche Betriebe, die Qualität hervorbringen.’ Für anspruchsvolle Bio-Betriebe ist im direkten Umland von Berlin wenig Platz im Sinne von Boden und Raum, im Sinne von Struktur vorhanden. Irgendwie kommt Angebot und Nachfrage da nicht richtig zusammen, analysieren wir bei einer ‘Berliner Weißen’ und einem australischen Craft Beer – handgemacht in Neukölln.

Ein ‚Saftladen‘ auf einem Berliner Markt – kekinwien.at
Die heutigen Berliner_innen haben’s gern gemütlich und dörflich.
Mir sind die heutigen Berliner_innen in vieler Hinsicht sehr sympathisch, weil gar nicht mehr preußisch. Sie hetzen nicht, vor allem nicht in der Früh. Die Samstagsmärkte beginnen gemächlich gegen 9 und 10 Uhr, haben gegen Mittag ihren Besucherhöhepunkt und werden erst am Nachmittag zwischen 14 und 16 Uhr wieder abgebaut. Mit den Flohmärkten verhält es sich ganz ähnlich. Bei uns hab ich immer das Gefühl, man muss den Einkauf samstags vor dem Kirchgang erledigt haben, und wenn das nicht schon in aller Herrgottsfrüh, ist muss man die Sünde beichten. Auch als Atheist_in, die nicht weiß, dass man sonntags …
Weniger begeistert mich, dass man auf Berliner Märkten oder auf der Straße im allgemeinen, kein Foto mehr machen kann ohne nicht sofort angeschnauzt zu werden. Ich verstehe einen Markt als öffentlichen Raum und Strassenfotografie als Genre ist damit nicht mehr möglich. Sobald ich frage, ob ich fotografieren darf ist die ‚Situation‘ ja vorbei bzw. gänzlich verändert. Wenn ich es so hart analysiere wie die Berliner_innen selber sind, ist man voreingenommen gegen Fremdes und ‘teilt’ seine Welt nur mit denen, die man kennt. Das ist nicht weltoffen, sondern provinziell.

Lakritze, Marktbericht Berlin – kekinwien.at
Statt wild brav, aber doch noch kantige Ecken
Am wohlsten gefühlt hab ich mich diesmal in der Crowd am ‘guten alten Türkenmarkt’ am Maybachufer, der auch Dienstags viel bietet. Leider ‘schwächeln’ sonst gerade die unter der Woche stattfindenden Märkte so sehr, dass man sich fragt, warum dann nicht in einen der gut sortierten Bio-Supermärkte gehen, die im Zentrum die konventionellen Supermärkte so gut wie ersetzt haben.
Empfehlen möchte ich nach wie vor den Samstagsmarkt am Boxhagenerplatz in Friedrichshain. Auch der Flohmarkt ebendort am Sonntag ist für mich der netteste in Berlin. Man kann von dort auch schnell zum Flohmarkt im nahen RAW Gelände springen. Manche finden dieses ‘ach so romantisch berlinerischen’, andere immer noch zu rau. Dort und ganz abseits aller Märkte ist DER aktuelle gar nicht geheime Tipp – thailändisches Barbecue und heißt Khwan.
Unter den neueren Märkten hat der Südstern ‘mein Herz erhellt’ und der unspektakuläre Schillermarkt. Ich mag auch die Gegend, jaja, das einst so schlimme, heute gehypte Kreuzkölln. Aber bitte – vergiss Mitte!

Kisir, auf dem Markt in Berlin- kekinwien.at
Marktbericht Berlin: Conclusio
EMPFOHLENE LEBENSMITTEL – MÄRKTE:
- Kreuzberg: BiOriental – Maybachufer, Di und Fr 11.00 – 17.00 Uhr
- Kreuzberg: Südstern 1, Sa 10.00 – 16.00 Uhr
- Neukölln: Schillermarkt – Herrfurthplatz, Do 12.00 – 19.00 Uhr und Sa 10.00 – 17.00 Uhr
- Friedrichshain: Boxhagenerplatz, Sa 9.00 – 15.30 Uhr

Heidelbeeren – pardon Blaubeeren auf dem Berliner Markt, Marktbericht Berlin – kekinwien.at

günstige Stachelbeeren, Berlin – kekinwien.at

Wilde Blaubeeren! Marktbericht Berlin – kekinwien.at

Zu guter Letzt: der freundliche Kartoffelmann, kek unterwegs auf dem Markt in Berlin – kekinwien.at
Alle Bilder des Beitrags (c) Mischa Reska alias mir für kekinwien; aus der Serie auf dem Markt.