ES – das Grauen
Kaum jemandem läuft nicht die Gänsehaut über den Rücken, wenn der Clown Pennywise irgendwo sein Unwesen treibt und unvermittelt auftaucht. Stephen Kings Horror-Schocker hat vielen von uns schon in den späten 1980er bis 1990er Jahren nächtelang den Schlaf geraubt und Alpträume verursacht …
Ich möchte Euch eine Book2Movie Rezension vorstellen, in der das Buch mit dem aktuellen Film verglichen wird. Ich habe den Roman übrigens mit dem abgeklärten Blick eines älteren Erwachsenen (vielleicht nicht so günstig) erstmals heuer im Sommer gelesen.
1. ES, das Buch:
Ein sehr guter, sehr gruseliger Thriller und eine hervorragende Charakterstudie aller Protagonisten, so beurteile ich diesen Roman von Stephen King. Als Meisterwerk ohne Kritik und Tadel kann ich die Geschichte aus meiner Sicht aber auf keinen Fall bezeichnen, denn da gibt es schon einige Punkte, die mich gestört haben.
Langeweile beim Gruseln?
Da wäre zuerst einmal die typische, enorme epische Breite – man könnte es auch bösartig als Geschwätzigkeit in Form eines Modetrends bezeichnen – die amerikanische Autoren sehr gerne an den Tag legen. Bei über 1500 Seiten halte ich es aber als Leser schon für angebracht, bei jeder Szene einzeln zu überprüfen, ob diese wirklich notwendig ist und für den Plot und den Handlungsaufbau tatsächlich etwas tut. Hier kann ich mit gutem Gewissen nicht für alle die Hand ins Feuer legen, was somit den Roman vor allem bei den Zwischenspiel-Kapiteln in der Mitte manchmal ein bisschen spröde und zäh macht. Nicht dass ich mich sehr gelangweilt hätte, aber ein paar Szenen rauszustreichen, hätte dem Stoff erheblich mehr Tempo, Rasanz und Spannung beschert. Ich merke bei meinem Leseverhalten so einen Umstand immer daran, dass ich nach vorne blättere und abzuschätzen beginne, wie viele Seiten noch zu lesen sind und wie lange ich noch brauchen werde. Wenn sowas passiert, ist irgendwas definitiv episch zu ausladend.
Meisterhaft grauenvoll.
Der Grusel- und Monsterfaktor ist aber tatsächlich als einzigartig grandios herauszuheben. Der Autor bedient permanent elementarste Kindheitsängste. Jeder Leser kann sich hier mit mindestens einer uralten Phobie identifizieren und wiederfinden, seien es Mörder, Alpträume oder Monster, Clowns, Vögel, grausliche Viecher, Abwässer, Scheiße, Leichen … Bei mir war es zum Beispiel nicht nur der Keller, sondern das Böse lauerte auch hinter den Türen in der Wohnung, die alle kontrolliert werden mussten, wenn ich abends immer ganz alleine war. Eine weitere Phobie meinerseits wird auch noch hervorragend stimuliert. Da ich einen ausgeprägt guten Geruchssinn habe, treffen mich erstens unangenehme Gerüche wie ein Keulenschlag und zweitens ich kann sie mir sogar bildlich so gut vorstellen, dass mich alleine die Vorstellung schon zum Würgen bringt. Mammamia! King kann grausliche Gerüche wirklich gut beschreiben – so anschaulich habe ich so etwas noch nie gelesen.
Beim quasi 25-jährige Klassentreffen einer ganzen Stadt bliebt nichts unaufgedeckt.
Der prinzipielle Plotaufbau, der zwischen den zwei Zeitebenen Kindheit in den 1950er Jahren und Erwachsenenalter der Gruppe der Verlierer in den 1980er Jahren hin und her springt macht den Roman vom dramaturgischen Aufbau her sehr ansprechend. King entwickelt wundervolle Psychogramme aller handelnden Personen – sowohl der Hauptfiguren als auch der Nebenfiguren, dabei wird so en passant vermittelt, wie sich das Leben aller Einwohner von Derry seit den 1950er Jahren entwickelt hat – quasi wird das 25-jährige Klassentreffen einer gesamten Stadt abgewickelt.
Alles wird thematisiert, die Mobber, die Verlierer, die Reichen, die Mitläufer, das elterliche Umfeld aller Protagonisten, die Beziehungen untereinander: Freundschaften, kleine Animositäten und riesige Antipathien, das Gewaltpotenzial jedes einzelnen ausgelotet, die Entwicklung der Persönlichkeiten aller Beteiligter, die unterschiedlichen Biografien nach 25 Jahren, die Lügen und der Selbstbetrug … nichts bleibt unaufgedeckt. Das ist wirklich wundervoll konzipiert. Auch habe ich mich sehr gewundert, wie gut und eindringlich die Charaktere beschrieben und voneinander abgegrenzt werden, denn bei derart viel Personal in diesem Roman, habe ich tatsächlich nur einmal ganz kurz bezüglich einer Namensgleichheit – es gab zwei Eddies – den Faden verloren und wusste nicht, wen der Autor meinte. In Anbetracht der Tatsache, wie viele Figuren hier in den Roman eingeführt werden – King beschreibt ja fast eine ganze Kleinstadt – ist dies wirklich sehr ungewöhnlich. Auch sprachlich kann der Thriller anderen literarischen Romanen sowohl in den teilweise humoristischen Auswüchsen als auch an Weisheiten durchaus das Wasser reichen.
„Kinder konnten das Unerklärliche besser in ihr Leben integrieren. […] Als Erwachsener lag man nicht wach im Bett und war überzeugt davon, dass im Schrank etwas lauerte oder unermüdlich am Fenster kratzte … aber wenn dann tatsächlich etwas passierte, etwas außerhalb einer vernünftigen Erklärung, war man völlig überfordert, geriet ins Schleudern, die Vorstellungskraft versagte. Man konnte das unerklärliche Ereignis nicht so ohne weiteres mit der Lebenserfahrung in Übereinstimmung bringen. Es war unverdaulich. Der Verstand beschäftigte sich immer wieder damit … bis man schließlich entweder verrückt oder zumindetst völlig unfähig zum Handeln wurde.“
„Gleichzeitig hatte er auch begonnen, jenes wichtige Prinzip zu begreifen, das die Welt regiert – zumindest wenn es um Karriere und Erfolg geht: Man muss den verrückten Kerl in seinem eigenen Inneren finden, der einem das Leben schwer machte. Man musste ihn in die Ecke treiben und packen. Aber man durfte ihn nicht umbringen, oh nein. Für kleine Bastarde dieser Art wäre der Tod viel zu gut gewesen. Man musste ihm ein Geschirr anlegen und dann anfangen zu pflügen. Der verrückte Kerl legte sich mächtig ins Zeug, sobald man ihn erst in die Spur gebracht hatte. Und er hielt einen bei Laune, amüsierte einen. Das war eigentlich auch schon das ganze Erfolgsgeheimnis.“
Die Geschichte steigert sich dann für meinen Geschmack eben ein bisschen zu gemächlich zum Finale hin. Die permanenten Zeitsprünge und Analogien zwischen Vergangenheit und Zukunft passen punktgenau.
Die Sache mit Beverly …
Und dann kommt noch eine Szene, die wieder einmal für den Plot überhaupt nichts tut und zudem aus einem anderen Grund völlig fatal und daneben ist. Nachdem die Kindergruppe ES zurückgeschlagen hat, haben alle das Gefühl, der Zusammenhalt würde zerbrechen. Also „opfert“ sich die zwölfjährige (!) Beverly – ihres Zeichens bisher auch noch Jungfrau – und schnackselt gleich einer Gang-Bang-Orgie mit all ihren Freunden aus dem Club der Verlierer gleich in einem Aufwaschen hintereinander, um quasi als Gruppenkleber den Zusammenhalt zu gewährleisten. Ich bin ja gar nicht zart besaitet und hab zum Beispiel schon mehrere derartige Bücher gut gefunden wie McEvans Zementgarten, aber was hier so nebenbei an Pädophilie und männlichem Täter-Opfer-Umkehr-Stereotyp von einem Autor wie King vermittelt wird, lässt mich bei all dem fiktionalen Horror erstmals ernsthaft erschaudern.
Dies liegt vor allem daran, dass Beverly ja bis zu diesem Zeitpunkt noch keine sexuellen Erfahrungen hatte – nicht mal wusste, worum es genau beim Sex ging – aber von ihrem Vater, der seine sanft sprießenden pädophilen Neigungen durch Gewaltorgien kompensierte, beschuldigt wurde, eine Schlampe zu sein. Dann entscheidet sich Bev autonom – und wir reden hier nicht von einer vierzehnjährigen in der Pubertät, sondern einer zwölfjährigen, die noch nicht mal weiß, worum es geht, spontan diesem Bild zu entsprechen und Sex mit all ihren Freunden zu haben? Echt jetzt? Das ist wirklich psychologisch völlig irreal. Derart sexualisiert verhalten sich nämlich nur kleine Mädchen, die wirklich bereits vom Vater missbraucht wurden oder eben nur in einer männlichen Vorstellung, wie sich das erwachsene Täter gerne in der typischen Täter-Opfer-Umkehr zurechtreden: Das Kind hat dies auch so gewollt.
Seid mir nicht bös, auch wenn wir hier über Fiktion reden, einen derartigen Humbug braucht man weder unter die Leute bringen noch solchen Fake unterstützen, das machen die pädophilen Täter eh schon seit Jahrhunderten selber, indem sie so einen Dreck vor der Gesellschaft und ihren Frauen behaupten, um die Schuld abzuwehren. Und dann hat die Szene ja nichts mit Gruselfaktor oder mit sonst irgendwas zu tun. Sie schwebt irgendwie frei im Plotkonzept und wird auch noch so beiläufig in die Handlung eingefügt. Das ist meiner Meinung nach total daneben.
2. ES, der Film:
Ein Roman, zwei Kinofilme
Dieses schwer verfilmbare Epos wurde drehbuchmäßig meiner Meinung nach optimal in zwei Teile zerlegt. Der erste Teil erzählt ausschließlich die Geschichte der Kinder in den 1950er Jahren, der zweite Teil wird sich der Horrorstory der Erwachsenen widmen (und soll 2019 in die Kinos kommen). Dadurch musste der Drehbuchautor nicht gar so viel kürzen, es gibt einen klaren Schnitt zwischen Teil 1 und 2, beim Cineasten entsteht keine Verwirrung durch den ständigen Wechsel zwischen den Zeiten und das Casting der Schauspieler ist auch viel einfacher – geradezu halbiert. Der Plot ist also filmisch perfekt umgesetzt und sehr nah an der Vorlage von Stephen King.
Die Szene mit Beverly …
Auch mein im Buch angesprochener Ärgerfaktor des Beverlykapitels wurde klugerweise ausgespart, es gibt einfach nur einen harmlosen entzückenden kindlichen Kuss zwischen Beverly und Bill, was natürlich auch der heutigen Zeit geschuldet ist, denn man geht mittleweile sehr sensibel mit dem Thema um.
Vorstellungskraft versus Spezialeffekt
In grandiosen Bildern wird cineastisch das Kleinstadtmilieu umgesetzt, und zu Beginn setzt der Regisseur sehr subtil auf Suspense und Sound, was mir tatsächlich perfektes Gruselvergnügen beschert hat. Leider eskaliert der Horror am Ende der Story zur episch-optischen computergenerierten Spezialeffekte-Materialschlacht, was dem Schrecken einfach sehr abträglich ist. Nicht alles, was kinotechnisch heutzutage möglich ist, muss auch leinwandfüllend perfekt inszeniert werden. Schon Hitchcock wusste die Vorstellungskraft des Kinobesuchers meisterhaft zu stimulieren, indem er einfach nicht alles zeigte und massiv mit Sound und Schnitten arbeitete. Auch die Soundeffekte verebben gegen das Finale hin zugunsten der optischen Spezialeffekte. Mag sein, dass ich auch im Rahmen des Filmes etwas abstumpfte, aber das Ende und die Highlights waren einfach so gar nicht gruselig für mich.
3. Das Fazit von Buch gegen Film:
Dieses Mal gewinnt das Buch das Match, obwohl der Film durchaus über weite Strecken sehr sehenswert ist. Für beide kann ich eine klare Empfehlung abgeben. Auf jeden Fall freue ich mich schon auf Teil 2! Die Spekulationsrunde, welcher Schauspieler die einzelnen Figuren darstellen wird, ist hiermit eröffnet!
ES. IT
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe: 8. Februar 2011
- Verlag: Randomhouse
- ISBN: 978-3-453-43577-3
- Taschenbuch: 1534 Seiten
- gesehen um ca. Euro 15,00
Filmdetails:
2017, USA, 135min
Roman: Steven King
Drehbuch: Gary Dauberman,Chase Palmer,Cary Fukunaga
Regie: Andrés Muschietti
mit Bill Skarsgård (Pennywise / Es), Jaeden Lieberher, Sophia Lillis, …
FSK 16 Jahre
Der Film lief ab September 2017 in unseren Kinos und ist am 22. Februar 2018 auf DVD, Blu-ray und eine 4K Ultra HD Blu-ray erschienen.